045. Die dunkle Höhlenwelt oder „Papa, woher kommen die Blitze?“ (Papa erklärt die Welt 2)

Die dunkle Höhlenwelt
oder: »Papa, woher kommen eigentlich die Blitze?«

Regen prasselte gegen die Scheiben des Autos, Blitze jagten durch den Himmel und lauter Donner war zu hören. Ein großes Gewitter hatte sich zusammen gezogen.
»Geht es dir da hinten auch gut oder macht dir das Gewitter Angst?«
Papa drehte sich nach hinten um und sah seine Tochter Sofie an, die in ihrem Kindersitz saß und fasziniert nach draußen blickte.
»Angst?«, sagte sie.
»Warum sollte ich Angst haben? Gewitter sind doch toll. Ich mag die vielen hellen Blitze. Nur der Donner könnte ruhig etwas leiser sein.«
Papa lachte. Er drehte sich wieder zurück und sah sich auf der Autobahn um. Überall standen die Autos still. Sie kamen nicht vor und nicht zurück, Stau, wohin man auch blickte.
»Ich hoffe, dass es bald weiter geht.«, sagte Papa.
»Nachher kommt ein Fußballspiel im Fernsehen. Das will ich nicht verpassen.«
Sofie sah noch immer nach draußen. Sie beginnen, die Blitze zu zählen.
»Papa, woher kommen eigentlich die Blitze?«
Papa musste kurz überlegen. Woher mögen sie wohl stammen?
»Sie kommen aus dem Himmel.«, antwortete er schließlich.
Sofie sah hinauf und staunte.
»Aus dem Himmel.«, murmelte sie vor sich hin.
»Aber wie sind sie da oben hin gekommen? Sie können doch nicht einfach plötzlich dort auftauchen.«
Papa dachte erneut nach. Er runzelte kräftig die Stirn und begann plötzlich zu lächeln.
»Mir fällt da eine Geschichte ein. Sie handelt von der Geburt und dem Leben der Blitze. Und die werde ich dir jetzt erzählen.«
Sofie strahlte über das ganze Gesicht.
»Oh ja, eine Geschichte.«
»Und wie fängt eine Geschichte immer an?«, fragte Papa.
Sofie lachte schon voller Vorfreude und antwortete: »Ich weiß es. Sie beginnt mit den Worten ›Es war einmal‹.«
»Ja, das stimmt. Absolut richtig. Also, es war einmal …«

 Es war einmal vor langer Zeit im Königreich des Himmels. Die Menschen dort oben lebten in Ruhe und Frieden, denn es ging ihnen richtig gut. Niemand war arm, und jeder hatte mehr als genug zu essen. Auf jeder Wolke stand ein schönes Haus, worin die Himmelsmenschen leben konnten. Ein schöneres Leben konnte sich niemand vorstellen.
Doch davon ahnten die Menschen auf der Erde nichts. Und sie lebten ihr Leben auf eine andere Art und Weise.
Unter der Erde jedoch lebte noch ein drittes Menschenvolk. Sie hausten in tiefen Höhlen. Dort war es den ganzen Tag dunkel und finster. Nur spärliches Kerzenlicht erhellte diese Welt ein wenig. Die Menschen aus den Höhlen wussten von der Schönheit des Königreichs im Himmel. Sie waren neidisch darauf, dass dort oben jeden Tag die Sonne schien. Außerdem gab es so tief unter der Erde nicht viel zu Essen, denn ohne Sonne kann Getreide für Brot nicht richtig wachsen und gedeihen.
Auch von diesem Volk ahnten die Menschen der Erde nichts. Sie lebten also weiter wie bisher und glaubten, die einzigen Menschen zu sein. Und deswegen geht es in dieser Geschichte auch nicht um sie.
Während im Himmel große Feste gefeiert wurden, musste unter der Erde hart geschuftet werden. Das Leben dort unten war hart.
Eines Tages saß der König der Höhlenwelt mit seinen Beratern zusammen und sie überlegten, wie sie das Leben des Volkes verbessern und erleichtern konnten.
»Ich wünschte«, sagte der König, »wir könnten ein Stück des Himmels und des Lichts zu uns holen. Es ist ungerecht, dass die da oben wie die Made im Speck leben, während wir von der Geburt an bis zum Tod nur schuften und arbeiten. Also sagt mir, was wir dagegen unternehmen können.«
Mit dieser Aufgabe betraut zogen sich die Berater zurück und dachten darüber angestrengt nach, wie man ein Stück des Himmels und des Lichts in die Höhlen bringen könnte.
Nach ein paar Tagen trafen sie sich wieder beim König und brachten ihre Ergebnisse vor. Allerdings war keine der Ideen zu gebrauchen.
Jemand schlug vor, die Oberfläche zu durchbrechen, um Licht in die Dunkelheit zu führen.
»Und wo sollen dann die Menschen der Oberfläche leben?«, fragte der König.
»Bei uns ist nicht genug Platz für alle.«
Ein anderer wollte Krieg führen, die Menschen des Himmel vertreiben und selbst dort oben leben.
»Das ist viel zu gefährlich.«
Der König lehnte abermals ab.
»Ich mag keine Kriege. Es soll ja niemand zu Schaden kommen. Außerdem haben uns die Menschen des Himmels nie etwas getan.«
Und so diskutierten und debattierten sie einen Tag, eine Nacht und noch einen weiteren Tag lang. Aber sie fanden keine Lösung, die dem König gefiel.
Doch dann öffnete sich die Tür des Konferenzsaales, und der jüngste aller Berater kam herein gestürmt. Er war wegen seines jungen Alters nicht eingeladen worden. Man dachte, ihm fehle es an Erfahrung, um den König beraten zu können.
Die anderen Berater sprangen wütend auf und wollten den Neuankömmling hinaus werfen lassen, aber der König winkte ihn zu sich.
»Wer bist du? Sprich!«, befahl er.
Aber schon schob sich der älteste Berater vor seinen Kollegen.
»Beachtet ihn gar nicht, mein König. Er ist noch ein Jüngling und hat noch viele Flausen im Kopf. Er wird euch sicherlich keine große Hilfe bieten können. Verlasst euch lieber auf uns.«
»Auf euch verlassen? Was habt ihr mir denn bisher bieten können? Ihr wollt andere Völker vertreiben, Kriege führen und das Angesicht der Erde verändern, nur damit es uns besser geht. Aber das sind in meinen Augen die falschen Wege. Ihr seid einfach zu alt, um neue Ideen zu haben. Vielleicht ist es gerade darum wichtig, zu hören, was uns ein Jüngling zu sagen hat.«
Den Beratern stockte der Atem. Sie waren noch nie in ihre Schranken verwiesen worden. Und nun geschah dies, weil ein junger Bursche die Unverschämtheit besaß, einfach ungefragt vor den König zu treten.
»Nun, mein Junge, was hast du auf dem Herzen? Kannst du mir eine Lösung des Problems bieten?«
Der junge Berater schluckte einen dicken Kloß herunter bevor er sprach.
»Mein König. Ich habe lange über das Problem nachgedacht. Und mir fiel nur eine Lösung ein, bei der wir keine Kriege führen müssen. Ich werde für euch in den Himmel reisen, von der Sonne, die dort scheint, ein paar Sonnenstrahlen abbrechen und diese in unsere Welt bringen. Dann haben wir endlich genug Licht, um besser leben zu können.«
Der König dachte nach, strich sich immer wieder über seinen Bart und wartete einige Zeit ab.
Auch die vielen älteren Berater warteten gespannt auf eine Antwort. Für sie war es undenkbar, Sonnenstrahlen hier herunter zu bringen. Das war doch gar nicht möglich, und der König würde dies auch nicht zulassen.
»Ich werde dir eine Chance geben, mein Junge.«, sagte schließlich der König.
»Reise in den Himmel und bringe mir die Sonnenstrahlen. Dann werde ich dich fürstlich belohnen.«
Plötzlich sprachen die vielen Berater alle durcheinander. Sie waren richtig aufgeregt.
»Das war eigentlich meine Idee.«, sagte einer.
»Der Junge hat mir meinen Einfall geklaut«, erwiderte ein anderer.
»Das war genau das, was ich ihnen auch gerade vorschlagen wollte, mein König«, sagte ein dritter.
Doch der König zog sich bereits in seine Gemächer zurück und der junge Abenteurer war auf dem Weg in den Himmel.
Als der Berater im Himmel ankam, war er überwältigt von der Schönheit dieses Königreichs.
Er stattete dem König des Himmels einen Besuch ab und bat ihn, sich ein paar Strahlen der Sonne abbrechen zu dürfen.
Nachdem der König die traurige Geschichte des Höhlenvolkes gehört hatte, willigte er ein. Den Menschen dort unten musste unbedingt geholfen werden.
»Ich werde ein paar meiner stärksten Soldaten zur Sonne schicken, damit sie dir bringen, was ihr so nötig braucht. Du kannst dich beruhigt auf den Heimweg machen.«
Es dauerte ein paar Tage, als es plötzlich an der Schlosstüre in der Höhlenwelt laut klopfte.
Draußen standen ein paar Soldaten mit großen Kisten.
Der König war so aufgeregt, dass er es nicht mehr erwarten konnte und sofort zu ihnen stürmte.
»Ist es wahr? Ich kann es noch gar nicht glauben. Ihr habt uns tatsächlich die Strahlen der Sonne gebracht?«
Die Soldaten lächelten und einer von ihnen öffnete die erste Kiste.
»Seht her, verehrter König. Es sind tatsächlich die Strahlen der Sonne. Von nun an wird es in euren Höhlen nie wieder so dunkel und finster sein.«
Doch statt der hellen Strahlen raste etwas grelles aus der Kiste hervor, streifte die anderen Kisten und noch mehr Grelles entsprang ihnen. Die ganzen Höhlen schienen plötzlich davon erfüllt zu sein.
»Was ist das? Was habt ihr uns da gebracht? Das ist doch kein Sonnenlicht.«
Der König war verwirrt, die Soldaten ebenso. Sie hatten schließlich eigenhändig die Strahlen der Sonne eingepackt.
In diesem Moment kam der junge Berater angelaufen.
»Mein König, ich weiß, was passiert ist. Ich habe es in einem der alten Bücher gefunden.«
Alle wurden still und hörten dem jungen Mann zu, während das Grelle noch immer seine Bahnen durch die Höhlen zog und alle Menschen vor sich her jagte.
»Vor ewigen Urzeiten und länger haben schon einmal Menschen versucht, das Licht der Sonne einzufangen. Doch hat es nicht geklappt. Die Strahlen der Sonne wurden zu Blitzen. Sie waren plötzlich nicht mehr dort, wo sie eigentlich hin gehörten. Das machte ihnen so sehr Angst, dass sie noch greller Strahlten, als ursprünglich und umher zogen, um ihren alten Platz wieder zu finden.«
Der König bekam Angst.
»Wie haben die Menschen es damals geschafft, die Blitze zu vertreiben?«
Doch darauf gab das Buch leider keine Antwort.
Inzwischen hatten die Blitze einen Ausgang gefunden und flogen hoch hinaus in den Himmel. Dort setzten sie ihre Suche nach der Sonne fort. Doch konnten sie sich nicht mehr mit ihr verbinden, da sie nun Blitze und keine Strahlen mehr waren.
Im Himmel wurde das Leben dadurch viel zu gefährlich. Ständig musste man Angst haben, von einem Blitz getroffen zu werden.
Doch zumindest dafür hatte der junge Berater eine Lösung.
»Als ich zum Himmel gereist bin, sah ich, dass die Menschen der Erde noch viel Platz auf der Oberfläche haben. Es wird ihnen bestimmt nichts ausmachen, wenn wir ebenfalls dort leben, alle gemeinsam nebeneinander und in Frieden. Dann werden die Menschen des Himmels nicht mehr von Blitzen gejagt und wir müssen in unseren Höhlen nicht mehr so schuften.«
Und so geschah es auch. Zu dieser Zeit wurde aus den drei Menschenvölkern ein großes Volk.
Die Blitze hingegen ziehen noch immer ihre Wege durch den Himmel. Sie suchen dort einen Platz für sich. Seitdem sieht man sie immer wieder von Himmel nieder fahren, wenn ein Gewitter stattfindet.

 Sofie verzog ein wenig ihr Gesicht.
»Und das soll ich dir jetzt glauben? Ich dachte, die Menschen von der Erde wüssten nichts von den anderen beiden Völkern. Fanden die das denn nicht komisch, als plötzlich noch mehr Menschen überall lebten?«
Papa grinste.
»Die haben das gar nicht gemerkt, denn es gab viele große Teile der Erde wo noch niemand lebte. Dort siedelten sich die Völker vom Himmel und der Höhlen an.«
»Aha.«, sagte Sofie.
»Aber woher weisst du denn dann von dieser Geschichte. Wir kommen ja schließlich nicht aus einer Höhle oder dem Himmel. Also kannst du doch gar nichts von dieser Geschichte wissen, oder?«
Jetzt musste Papa laut lachen.
»Na, was meinst du wohl, wer damals dem König vorgeschlagen hat, die Strahlen von der Sonne abzubrechen?«
Er zwinkerte Sofie an und drehte sich wieder nach vorn.
»Schau mal, das Gewitter hat aufgehört. Und jetzt können wir auch endlich weiter fahren. Vielleicht schaffen wir es ja doch noch rechtzeitig nach Hause, bevor das Fußballspiel beginnt.«
Papa startete den Motor und fuhr weiter.

(c) 2007, Marco Wittler

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