085. Eine Fahrt mit dem Zug (Ninas Briefe 14)

Eine Fahrt mit dem Zug

Hallo Steffi!

Nachdem ich den ersten Teil deines Briefes gelesen hatte, kamen in mir viele Sorgen hoch. Ich hatte richtig Angst, dass du vielleicht schon bald in einem Bett im Krankenhaus liegen würdest. Aber ein paar Stunden später fand ich dann noch eine weitere Briefseite und war dann so erleichtert, lesen zu können, dass Angora keine Krankheit, sondern eine Katzenrasse ist.
Beim nächsten Mal frage ich dann einfach gleich meinen Papa. Der ist sehr schlau und weiß auch viel. Dann muss ich mir nicht so viele unnötige Gedanken machen.
Ich finde es riesig, dass du jetzt ein eigenes Haustier bekommen hast. Meine Eltern sind ja immer noch dagegen, mir meinen Wunsch zu erfüllen. Aber ich habe da schon wieder eine Idee.
Bauer Lohse hat mir nämlich angeboten, mein Pony zu seinen Pferden auf die Weide und in den Stall zu stellen. Also wenn Papa jetzt noch etwas dagegen einfällt, dann bin ich richtig überrascht.
Nun aber etwas ganz anderes.
Letztes Wochenende war ich mit Oma allein unterwegs. Sie war ein paar Tage bei uns zu Besuch. Sie durfte sogar bei mir im Zimmer schlafen. Das war richtig schön. Vor dem Schlafen haben wir uns immer Geschichten über Jungs erzählt.
Am Samstag Morgen stand sie dann plötzlich mit einem Fahrschein für die Eisenbahn in der Hand vor dem Frühstückstisch und lud mich ein, mit ihr kreuz und quer durch die Gegend zu fahren.
Mama und Papa wussten natürlich schon Bescheid und mein kleiner Bruder Tommi war sauer, dass er zu Hause bleiben musste. Aber Mama sagte, er sei noch zu klein für so eine lange Fahrt.
Nach dem Frühstück packte ich schnell ein paar Sachen in meinen rosa Rucksack. Ich wollte auf keinen Fall auf meinen Fotoapparat, Proviant, etwas zu Trinken und mein liebstes Kuscheltier verzichten.
Eine halbe Stunde später standen wir bereits am Bahnhof und sahen dem Zug bei der Einfahrt zu. Eine große Lok zog mindestens zwanzig Waggons hinter sich her und blieb dann genau vor meiner Nase stehen.
Am liebsten hätte ich sie, während sie noch rollte, berührt, aber Oma erklärte mir, dass es verboten wäre zu nah an die Gleise heran zu gehen. Irgendwer hatte sogar eine weiße Linie auf den Boden gemalt, die man erst übertreten durfte, wenn der Zug komplett zum Stillstand gekommen war.
Einen Augenblick später öffneten sich die automatischen Einstiegstüren und eine unzählbare Menge Menschen stieg aus, Oma nahm mich sofort an die Hand, um mich in diesem Gedränge nicht zu verlieren.
Nach und nach verteilten sich die Leute und verschwanden in Autos, Taxen und Bussen. Oma und ich konnten endlich einsteigen.
Im Zug gab es zwei Treppen. Eine führte nach oben und die andere nach unten. Zuerst ging ich nach unten. Dort konnte man allerdings nur Füße sehen. Deswegen entschieden wir uns für zwei Sitzplätze in der oberen Etage.
Es dauerte dann auch nicht mehr lange, bis die Fahrt begann. Ganz langsam setzte sich der Zug in Bewegung und wurde dann immer schneller. Der Bahnhof war schon bald nicht mehr zu sehen. Stattdessen kam ein Mann in Uniform zu uns und fragte nach unseren Fahrkarten.
Schnell flüsterte ich zu Oma, dass sie vorsichtig sein solle, damit er sie uns nicht klauen konnte.
Der Mann lachte. Er musste mich wohl gehört haben. Und dann deutete er auf seine Mütze und stellte sich als Schaffner vor.
In diesem Moment wurde ich knallrot im Gesicht. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie peinlich mir das war. Ich sah schnell aus dem Fenster und wartete darauf, dass der Mann weiter ging.
Der Zug fuhr weiter. Er düste durch weite Felder und vorbei an dunklen Wäldern. Nur ab und zu hielten wir in weit auseinander liegenden Städten.
Und ob du es glaubst oder nicht, aber der Schaffner lief immer wieder an uns vorbei und grinste mich dabei an. Er schien sich richtig lustig über mich zu machen. Ich lies mir allerdings nichts anmerken.
Irgendwann schlief Oma ein und schnarchte leise vor sich hin. Es dauerte nicht lange, bis der Schaffner erneut vor mir stand. Dieses Mal zwinkerte er mir zu und lud mich ein, dem Lokführer einen Besuch abzustatten. Das mache mich natürlich neugierig. Ich schrieb Oma noch schnell eine Nachricht, die ich ihr auf den Schoß legte, bevor es los ging.
Der Schaffner ging vor und ich lief hinter ihm her. Es wunderte mich allerdings, in welche Richtung wie unterwegs waren. Die Lok befand sich hinten und schob den Zug vor sich her. Wir gingen allerdings nach vorne.
»Gesteuert wird der Zug immer vorne, damit der Lokführer auch etwas sehen kann.«
Hatte der Schaffner vielleicht meine Gedanken gelesen? Das war schon sehr seltsam. Aber es sollte noch viel verrückter kommen.
Wir waren gerade im Führerstand angekommen, da fuhren wir in einen langen, dunklen Tunnel. Es war nichts mehr zu sehen, bis auf ein paar blinkende Kontrolllampen. Ich musste mich festhalten, um nicht umzukippen und die Orientierung zu verlieren.
Doch dann blinkten plötzlich immer mehr Lichter auf. Sie waren überall um den Zug herum. Selbst die Tunnelwände würden immer heller und bunter. Es sah unbeschreiblich schön aus. Das kannst du dir gar nicht vorstellen.
»Dies ist der Edelsteintunnel. Die ganzen Steine in den Wänden beginnen zu glitzern, wenn die Scheinwerfer richtig eingestellt sind. Wir das geht, weiß aber nur ich. Mein Vater hat es mir beigebracht, denn er war früher auch ein Lokführer.«
Vor Begeisterung konnte ich kein einziges Wort heraus bringen. Daher hörte ich einfach weiter zu und sah immer wieder zum Fenster raus.
»Wenn die falschen Leute davon erfahren, kommen sie bestimmt her, schlagen die Edelsteine aus den Wänden und verkaufen sie für viel Geld. Aber das ist nichts im Vergleich mit dieser Farbenpracht.«
Ich musste dem Mann einfach zustimmen. So etwas Schönes durfte man nicht einfach zerstören.
Nach ein paar Minuten war es wieder vorbei. Das Glitzern verschwand und vor uns tauchte das helle Sonnenlicht am Ende des Tunnels wieder auf. Die Fahrt in der Dunkelheit ging zu Ende.
Der Schaffner legte eine Hand auf meine Schulter und gab mir zu verstehen, dass es wieder Zeit wurde, zurück an meinen Platz zu gehen. Also bedankte ich mich, sagte den beiden Männern ein Lebewohl und kehrte zu Oma zurück.
Sie schlief noch immer, also setzte ich mich zu ihr, nahm ihr meine Nachricht vom Schoß und erinnerte mich noch einmal an das schöne Glitzern im Tunnel.

Deine Nina.

P.S.: Es wäre so schön gewesen, wenn du es hättest sehen können, denn ich darf dir leider nicht verraten, wo sich dieser Tunnel befindet.

(c) 2008, Marco Wittler

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