102. Der Angsthase oder „Papa, wer hat die Sterne gemacht?“ (Papa erklärt die Welt 12)

Der Angsthase
oder »Papa, wer hat die Sterne gemacht?«

Es war eine laue Sommernacht, die sich nach Sonnenuntergang langsam über das Land legte.
Sofie lag mit einer Decke auf dem Rasen und blätterte in einem spannenden Bilderbuch. Da es aber langsam zu dunkel wurde, hatte sie eine Taschenlampe in der Hand.
»Komm endlich rein. Es ist ja schon fast ganz dunkel. Kalt wird es bestimmt auch bald.«, rief Papa von der Terassentür aus.
Sofie schüttelte den Kopf. »Ich hab doch meine Decke. Damit könnte ich die ganze Nacht draußen bleiben und sogar hier schlafen.«
Papa kam auf die Wiese und setzte sich neben seine kleine Tochter.
»Hast du denn keine Angst hier draußen?«
Sie schüttelte erneut den Kopf.
»Auf gar keinen Fall. Du bist doch immer bei mir und passt auf. Was soll denn dann noch passieren?«
Papa lächelte.
»Na gut. Ein paar Minuten darfst du noch hier liegen bleiben. Aber wenn du das Buch durch hast, kommst du rein. Ist das in Ordnung?«
Sofie nickte. Um aber noch mehr Zeit im Garten verbringen zu können, legte sie das Bilderbuch beiseite, drehte sich auf den Rücken und sah in den Himmel hinauf.
Es war mittlerweile so wenig Licht dort oben, dass bereits einige Sterne zu sehen waren. Sie waren kleine helle Punkte vor einem dunkelblauen Hintergrund.
Sie begann zu grübeln. Schließlich schlich sich eine Frage in ihren Kopf.
»Papa, kannst du noch einmal zu mir kommen?«
Papa seufzte, schaltete den Fernseher ab, trottete zurück in den Garten und setzte sich wieder neben seine Tochter.
»Was möchtest du denn?«
Sofie leitete seinen Blick mit dem Zeigefinger in den Himmel.
»Schau mal nach oben. Sieht das nicht toll aus? So viele kleine weiße Pünktchen, und jeder davon ist ein leuchtender Stern.«
Papa legte sich hin und sah nach oben.
»Wirklich schön.«, sagte er und genoss den Ausblick.
»Wer hat eigentlich die Sterne gemacht?«, fragte Sofie plötzlich.
Er hielt inne, kratzte sich am Kinn und dachte nach.
»Das ist eine gute Frage. Dazu fällt mir eine Geschichte ein, die ich erst kürzlich gehört habe. Sie handelt zufällig von den vielen Sternen am Himmel. Und die werde ich dir jetzt erzählen.«
Sofie strahlte über das ganze Gesicht.
»Oh ja, eine Geschichte.«
»Und wie fängt eine Geschichte immer an?«, fragte Papa.
Sofie lachte schon voller Vorfreude und antwortete: »Ich weiß es. Sie beginnt mit den Worten ›Es war einmal‹.«
»Ja, das stimmt. Absolut richtig. Also, es war einmal …«

Es war einmal ein kleiner Hase. Er lebte in einem kleinen Erdloch am Rande eines Feldes. Jeden Tag hoppelte er durch die dichten Getreidehalme und die angrenzende Wiese und fraß Körner und Gras. Wenn einmal Gefahr durch einen Fuchs oder einen Raubvogel drohte, schlüpfte er schnell in sein Loch und war sofort wie vom Erdboden verschwunden. Seine Artgenossen fanden sein Verhalten sehr seltsam, denn normalerweise versteckten sich nur Kaninchen unter der Erde.
»Ich hab doch vor diesen hungrigen Tieren keine Angst.«, brüstete er sich immer vor den anderen Hasen.
»Mich hat noch keiner erwischt und gefressen, denn ich bin viel zu flink und zu schlau.«
Von allen anderen seiner Art wurde er stets dafür bewundert. Allerdings wussten sie auch nicht, dass dieser kleine Schlaumeier in Wirklichkeit ein richtiger Angsthase war.
Jeden Abend, wenn die Sonne hinter dem Horizont verschwand und die Dunkelheit herein brach, wurde der kleine Hase unglaublich nervös. Er rannte auf der Wiese hin und her und wurde immer ängstlicher. Sogar in seinem Versteck lies diese Angst nicht nach. Er zitterte dann immer am ganzen Körper. Er konnte sich immer erst beruhigen, wenn am nächsten Morgen die Sonne aufging.
So ging es jeden Tag, bis plötzlich etwas Unvorhergesehenes geschah.
Der kleine Hase saß, wie jeden Morgen, auf der nahen Wiese und frühstückte. Er knabberte an Grashalmen und fraß frische Kleeblüten. In diesem Moment stürzte sich ein Falke vom Himmel.
Der kleine Hase saß den Schatten zu spät heran nahen und hatte nicht mehr genug Zeit für die Flucht. Ängstlich rollte er sich zusammen und erwartete, gefangen zu werden. Doch das geschah nicht. Der Falke lies sich im Gras nieder tat nichts.
»Willst du mich denn nicht fressen? Du bist doch ein Raubvogel und ich deine Beute.«
Der Falke schüttelte den Kopf.
»Auf keinen Fall. Ich fresse keine Hasen. Ich bin hier, um dich zu warnen. Da oben zieht ein großer Adler seine Kreise und sucht nach Futter. Du solltest ganz schnell von hier verschwinden, sonst landest du noch auf seiner Speisekarte, denn ihm ist noch nie ein Beutetier entkommen.«
Der kleine Hase war völlig überrascht. So etwas hatte er gar nicht erwartet. Schnell nahm er seine Beine in die Pfoten und lief zu seinem Erdloch, in dem er verschwand.
Der Falke hingegen stellte sich davor, um mit seinem Schützling weiter reden zu können.
»Was bist du denn für ein komischer Hase? Du versteckst dich in einem Loch, wie ein Kaninchen? Was macht dir denn so viel Angst, dass du dich unter die Erde zurück ziehst?«
Nur langsam kam der kleine Hase wieder an die Oberfläche. Er hatte ein trauriges Gesicht. Man konnte ihm sehr gut ansehen, wie sehr er mit seinem Gewissen rang. Schließlich rückte er doch mit der Wahrheit raus.
»Ich habe ständig Angst. Füchse und Raubvögel sind gar nicht so schlimm, wenn man ein gutes Versteck hat. Aber das Schlimmste was es gibt, ist die Dunkelheit, die die ganze Nacht über herrscht, weil ich dann nichts mehr sehen kann.«
Der Falke dachte nach und begann schließlich nach ein paar Minuten zu grinsen.
»Ich glaube, ich weiß, wie ich dir helfen kann. Jeden Abend schiebt sich eine große schwarze Decke über den Himmel und verdunkelt die Welt. Das Licht schafft es nicht hindurch und muss immer bis zum nächsten Morgen warten. Aber ich habe da eine Idee, mit der ich deine Angst vielleicht vertreiben kann. Aber dafür müssen wir bis zum Einbruch der Nacht warten.«

Ein paar Stunden später verschwand das Licht Es wurde so dunkel, dass mein seine Hand nicht mehr vor Augen sehen konnte.
Der Hase wollte schon wieder in seinem Loch Schutz suchen, doch der Falke hielt ihn davon ab.
»Schau jetzt genau hin. Ich werde dir ein wenig vom Licht zurück bringen, damit du in der Nacht etwas sehen kannst und nie wieder Angst haben musst.«
Er schlug mit den Flügeln und stieg zum Himmel hinauf. Als er an der dicken Decke angekommen war hackte er mit der Spitze seines Schnabels unzählige Löcher hinein. Nach und nach drangen einzelne Lichtstrahlen zum Boden herab und beleuchteten die Erde. Es blieb zwar immer noch dunkel, aber nun konnte man wenigstens wieder etwas sehen.
Als der Falke wieder landete, drückte sich der kleine Hase an ihn und bedankte sich so gut er konnte. Nun musste er nie wieder Angst haben.

Sofie lag noch immer auf ihrer Decke und sah in den Himmel.
»Und so sollen die Sterne entstanden sein?«
Sie strich sich nachdenklich durch das Haar. Schließlich drehte sie sich zu Papa um und lachte.
»Ich glaub dir kein Wort. Aber schön war die Geschichte trotzdem.«

 (c) 2008, Marco Wittler

2 Kommentare

  1. Sehr schön und sehr herzerwärmend, die Geschichte vom kleinen Hasen! Die Idee, Kinderfragen so anschaulich und bezaubernd zu erklären ist einfach toll, Marco! Großes Lob! Liebe Grüße, Ella

    • Hallo Ella.
      Die Kinderfragen sind durch einen Zufall entstanden. Ich war früher bei blog.de und konnte dort viele Muttiblogs lesen. Darin waren immer wieder solche Kinderfragen ein Thema. Frecherweise habe ich mich einfach daran bedient und die Fragen auf meine ganz eigene Art und Weise beantwortet. So mache ich das bei unseren Kids auch immer. Natürlich mit einem Augenzwinkern im Gesicht. 😉

      LG, der Marco

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