114. Der erste Schultag

Der erste Schultag

Paul saß aufgeregt in seinem Bett. Die Sonne würde erst in einer Stunde aufgehen und der Wecker noch später klingeln. Trotzdem war er wach. Er war unglaublich aufgeregt, denn heute war ein ganz besonderer Tag.
Nach dem Frühstück würde er mit Mama und Papa zum ersten Mal zur Schule fahren. Bis vor ein paar Wochen besuchte er noch den Kindergarten. Aber jetzt war er groß und ein Schulkind.
Auf seinem Stuhl lagen alles Sachen, die er heute anziehen wollte bereit. Er hatte sie schon vor drei Tagen ungeduldig mit Mama zusammen ausgesucht. Daneben stand eine große Schultüte. Eigentlich sollte sie sicher verwahrt in der Küche stehen, aber Paul konnte nicht mehr schlafen. Also bekam er sie mit in sein Zimmer. Geöffnet hatte er sich aber nicht. Das hatte Mama verboten.
Paul versuchte sich vorzustellen, was der kommende Tag alles bringen würde. Er sah sich auf dem Schulhof, auf dem er schon so oft nach dem Kindergarten heimlich gespielt hatte. Überall würden Kinder in schicken Klamotten mit prall gefüllten Schultüten stehen und darauf warten, ihre Klassenräume gezeigt zu bekommen. Zwischen ihnen würden viele Eltern und Großeltern stehen und vor lauter Aufregung unzählige Fotos machen.
»Dann lerne ich auch meinen allerersten Lehrer kennen. Ich hoffe er ist so nett wie meine alte Kindergartentante.«
Ach, der Kindergarten. Es fiel ihm nun sehr schwer an die alten Zeiten zu denken. Die Schule würde bestimmt aufregend sein, aber dafür sah er nun ein paar Freunde nicht mehr so oft und, das tägliche Spielen wurde durch das anstrengende Lernen ersetzt.
»Wenn ich doch bloß beides machen könnte. Aber große Jungs wie ich gehen halt nur noch zur Schule.«
Irgendwann schien der Tag dann doch beginnen zu wollen. Sie Sonne schickte ihre ersten Strahlen aus und beleuchtete ganz zaghaft den Himmel, bevor sie sich anschickte, über den Horizont zu klettern.
Paul war nun doch endlich eingeschlafen, als plötzlich im Schlafzimmer seiner Eltern ein Wecker klingelte. Es dauerte nur ein paar Minuten, bis Mama in das Kinderzimmer kam, um Paul zu wecken.
Sie warf noch einen schnellen Blick in alle Ecken und stellte zufrieden fest, dass er die Schultüte nicht angerührt hatte.
»So, mein großer Held. Es wird Zeit aufzustehen. Die Schule fängt gleich an.«
Paul war schlagartig wieder wach, als hätte er nur auf ein Zauberwort gewartet. Er schlug die Augen auf, hüpfte aus seinem Bett und flitzte wie der Wind in das Badezimmer. Als er nach einigen Minuten wieder heraus kam, zog er sich gleich die Hose und das T-Shirt an, auf die er sich so gefreut hatte.
»Endlich geht die Schule los.«
Er jubelte lauthals durch das Haus, während er sich ein leckeres Frühstück aß und ein paar weitere Brote in seinen Schulranzen stopfte.
»Damit ich dort nicht verhungere.«, behauptete er.
Schließlich stand er dann fix und fertig draußen vor der Haustür. Der Ranzen hing am Rücken, die Schultüte lag fest im Arm und Mama fuhr mit dem Auto vor.

Der Schulhof war voll. Es waren viele Schulkinder und noch viel mehr Verwandte gekommen. Die älteren Schüler von der zweiten bis vierten Klasse waren sauer, dass sie während der Pause nicht genug Platz hatten und die ›Babys‹ so viel Krach machen würden. Doch das störte keinen der Anfänger.
Paul versuchte sich einen guten und übersichtlichen Platz zu verschaffen, als der Schuldirektor mit einem Mikrofon vor die Menge trat.
»Liebe Kinder, liebe Eltern. Ich hatte eigentlich eine sehr schöne Rede vorbereitet. Die hat allerdings mein Hund heute Morgen gefressen.«
Lautes Gelächter war von allen Seiten zu hören.
»Aber trotzdem heiße ich euch alle herzlich Willkommen und wünsche den Kindern viel Spaß in den kommenden vier Jahren an unserer Grundschule.«
Nun nahm er doch einen Zettel zur Hand und rief nacheinander die Namen aller Kinder vor und verteilte sie auf die einzelnen Klassen.
Als Paul an der Reihe war, verabschiedete er sich schüchtern von seiner Familie und lief einer Gruppe Kinder nach.
»Viel Spaß, mein Großer.«, rief Mama ihm noch hinterher.
»Und wenn es erst nicht so schön ist, dann denk dran, dass wir dafür alle zusammen heute Nachmittag leckeren Kuchen essen.«
Sie wischte sich eine Träne aus dem Auge, während ihr kleiner Sohn im Schulgebäude verschwand.

Zwanzig Kinder saßen nun in der Klasse zusammen. Die meisten hatten noch den Schulranzen auf dem Rücken, die Schultüte in der Hand und nicht einmal die Jacke ausgezogen.
Vorn am Pult saß eine Frau und lächelte alle an.
»Hallo. Ich bin Frau Paulsen. Ich hoffe ihr habt keine Angst vor mir.«
Sie ging zu einem Schrank, holt eine Gitarre hervor und setzte sich mitten zwischen die Kinder.
»Ich denke, wir werden erst einmal ein Liedchen gemeinsam singen und uns dabei besser kennenlernen. Wer Lust hat, legt einfach seine Sachen beseite, zieht die Jacke aus und singt mit. Stundenpläne und alles andere schieben wir weg und kümmern uns später darum.«

Es dauerte eine ganze Weile, bis Paul wieder nach draußen kam. Mama hatte sich schon Sorgen gemacht, da alle anderen ersten Klassen bereits nach Hause gegangen waren. Gemeinsam mit ein paar anderen Jungs stürmte er ihr nun entgegen.
»Es war so toll. Es hat noch viel mehr Spaß gemacht, als ich es mir vorgestellt hatte. Ich werde jetzt jeden Tag in die Schule gehen.«
Mama strahlte. Sie hatte sich genau das gewünscht.
»Dann können wir ja nach Hause fahren und unser Essen vorbereiten.«, sagte sie.
Paul blieb stehen und verzog das Gesicht. Er wurde rot und sah zum Boden.
»Eigentlich würde ich viel lieber etwas anderes machen.«
Er zeigte auf die drei Jungs, die hinter ihm standen.
»Das sind Simon, Tobias und Nick. Sie sind meine neuen Freunde. Wir sitzen sogar an einem Tisch zusammen. Wir würden viel lieber heute Nachmittag zusammen spielen.«
Mama schmunzelte und sah in die lächelnden Gesichter der anderen Eltern.
»Dann werden wir das Essen wohl verschieben müssen.«
Sie überlegte kurz, bis ihr eine bessere Idee in den Sinn kam.
»Oder was haltet ihr davon, wenn ihr alle mit euren Eltern zu uns nach Hause kommt? Die großen trinken Kaffee und ihr könnt im Garten zusammen herum tollen.«
Die Jungs jubelten und hüpften vor Freude im Kreis herum.
Während der Rückfahrt flüsterte Paul seiner Mama etwas von hinten zu.
»Das ist der schönste Tag in meinem Leben.«

(c) 2008, Marco Wittler

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