123. Eine Reise durch die Zeit

Eine Reise durch die Zeit

Nick saß gelangweilt vor dem Fernseher und wechselte von einem Programm auf das nächste. Bei jedem Sender sah er für einige Sekunden zu, war dann aber der Meinung, noch etwas besseres finden zu können. So ging es die Senderliste rauf und runter. Aber am Ende war nichts dabei, was er sehen wollte.
»Ach, mir ist so unendlich langweilig.«, maulte er und lies dann doch einfach einen uninteressanten Film laufen.
»Wir haben über hundert Sender, aber auf keinem läuft etwas Gutes. Das kann doch nicht wahr sein.«
Er sah sich um, konnte aber niemanden sehen. Sein Vater war noch arbeiten und seine Mutter stand in der Küche und machte den Abwasch vom Mittagessen.
»Prima, dann kann mich ja auch keiner erwischen, wenn ich mir eine Tüte mit Chips hole.«
Nur einen Augenblick später saß Nick wieder im Sessel und knabberte munter vor sich hin.
»Wenigstens etwas.«
Doch die Langeweile verschwand einfach nicht.
Mittlerweile war seine Mutter ins Wohnzimmer gekommen und sah ihrem Sohn zu.
»Warum gehst du denn nicht nach draußen und spielst da mit deinen Freunden? Das Wetter ist doch so schön heute.«
Sie hatte recht. Die Sonne schien und es war schön warm.
»Von denen hat doch keiner Zeit. Die haben jetzt alle eine Playstation oder einen Computer zu Hause. Die sitzen den ganzen Tag über da dran und spielen nur noch. Das würde ich auch gern machen, aber ich bekomme so ein Ding ja nicht von euch. Also muss ich mich halt vorm Fernseher langweilen.«
Schon sehr oft hatte Nick mit seinen Eltern über den Kauf eines Computers geredet. Aber er hatte nie Glück dabei gehabt. Sie waren der Meinung, dass man auch ohne Strom genug Spiele spielen konnte. Man musste sich nur etwas einfallen lassen.
»Das mit dem Computer hatten wir doch schon, Nick.«, sagte seine Mutter, um ihren Unwillen noch einmal zu bekräftigen.
»Wenn du älter bist und einen für die Schule brauchst, dann können wir noch einmal drüber reden. Aber nur zum Spielen sind sie einfach viel zu teuer.«
Sie ging zur Gartentür und öffnete sie, während sie mit der Fernbedienung den Fernseher abschaltete.
»Und nun raus mit dir. Schnapp ein wenig frische Luft. Das tut dir gut und du kommst vielleicht auf andere Gedanken.«
Nick stand gequält auf und schleppte sich gespielt aus dem Haus. Noch einmal sagte er, wie langweilig es draußen wäre, hatte aber trotzdem keine Chance gegen seine Mutter.
Er kletterte an einem Seil in den Kirschbaum hoch und verkroch sich in seinem Baumhaus. Von dort aus konnte er den ganzen Garten und die umliegenden Straßen beobachten, wurde aber selber nicht gesehen. Es war das perfekte Versteck.
»Hey, du kleiner Langweiler. Willst du nun den ganzen Tag über in deiner Holzhütte versauern oder wirst du doch noch etwas spielen?«
Wo kam denn diese Stimme plötzlich her und wem gehörte sie? Nick war sich nicht sicher. Er sah aus den Fenstern heraus und lies seinen Blick über den Boden schweifen. Er konnte allerdings niemanden entdecken.
»Ich hab dich was gefragt. Willst du mir nicht antworten?«
Da war sie wieder. Doch diesmal lies sich ein kleiner Mann, nicht größer als ein Fuß lang war, vom Dach herab und kletterte durch eines der Fenster herein.
»Wer … was bist du?«, stammelte Nick.
»Ich heiße Attal und bin ein Kobold. Ich lebe im Stamm deines Baumes. Und es lies sich nicht verhindern, zu bemerken, dass du keine Lust zum Spielen hast.«
Nick erzählte von den Computern seiner Freunde, vom langweiligen Fernsehprogramm und von seiner Mutter, die ihn jeden Tag aufs Neue antrieb, draußen etwas zu unternehmen.
»Sie sagt immer, dass sie früher nichts anderes getan hätten. Sie hätten keine Spiele am Computer gehabt, da es so etwas damals noch gar nicht gab. Aber das glaube ich ihr nicht.«
Der Kobold hatte sich alles angehört und dachte nach.
»Du sollst also, wie die Kinder früher, hier draußen spielen und dir fällt nichts ein?«
Nick nickte.
»Ohne meine Freunde ist es doch eh viel zu langweilig.«
»Dann wollen wir doch mal schauen, ob ich daran nicht etwas verändern kann.«
Attal kramte umständlich in einer seiner Taschen und holte eine handvoll Staub daraus hervor. Er holte tief Luft und blies den Staub in alle Himmelsrichtungen fort.
Auf einmal begann die Luft um das Baumhaus zu glitzern. Es kam Nick vor, als wären überall Glühwürmchen. Doch dann war wieder alles wie zuvor.
»Das war ja ein ganz toller Trick. Und nun soll meine Langeweile verfliegen? Daran glaubst du doch selber nicht.«
»Du wirst schon sehen.«, sagte der Kobold und kletterte wieder aus dem Fenster.
Es dauerte nur ein paar Minuten, bis ein anderer Junge die Straße entlang gelaufen kam. Es war Daniel, der gerade in diesem Moment durch ein kleines Tor in den Garten kam.
»Nick? Bist du da? Kannst du schnell mal her kommen? Bei uns ist etwas ganz Schreckliches geschehen.«
Nick kletterte zum Boden und lies sich erzählen, was passiert war.
»Ich habe gerade noch an meinem Computer gesessen und das neueste Spiel gespielt, als plötzlich alles um herum zu Glitzern begann und sich der Computer auflöste. Er ist komplett verschwunden, als wenn es ihn nie gegeben hätte. Kannst du dir das vorstellen?«
Nick konnte es nicht. Das hörte sich auch viel zu verrückt an. Doch nach und nach tauchten weitere seiner Freunde auf und erzählten ihm die gleiche Geschichte.
»Ihr wollt mich doch nur veräppeln. Ihr habt euch abgesprochen und lügt mich an.«
Nick ging wütend ins Haus. Doch als er den ersten Schritt durch die Tür gemacht hatte, stockte ihm der Atem. Der Fernseher war verschwunden. An seiner Stelle stand auf einem alten Tisch ein noch viel älteres Radio. Was war bloß geschehen?
Mittlerweile waren sie zu fünft. Gemeinsam gingen die Jungen von Haus zu Haus. Doch fanden sie das Gleiche. Eigentlich müsste man sogar sagen, dass sie nichts fanden, denn es gab keine Computer und keine Fernseher mehr. Sie waren verschwunden.
»Hey, Jungs. Kommt ihr auch gleich ins Stadtzentrum? Das Rennen fängt gleich an. Das wollt ihr doch bestimmt nicht verpassen.«
Es war Daniels Vater, der zu Fuß unterwegs war und die Jungen einlud, mit ihm zu kommen.
»Welches Rennen?«, fragten sie sich. Die Antwort darauf sahen sie dann aber direkt auf einem Plakat, das an einem Baum hing.

Heute großes Seifenkistenrennen in der Stadt!

Von rennenden Kisten hatten sie noch nie etwas gehört. Aber da sie nun eh nichts anderes machen konnten, gingen sie mit in die Stadt.
Die Hauptstraße war gesperrt worden. Das hatten die Jungen noch nie erlebt. In der Mitte stand eine große Rampe, auf der kleine, selbst gebaute Holzautos. In jedem saß ein Kind. Sie warteten gespannt auf den Start.
Plötzlich ertönte ein Schuss aus einer Startpistole. Auf der Rampe wurde eine kleine Sperre herab gelassen und die Autos fuhren los. Nun wurde es richtig aufregend, denn keiner der Rennfahrer hatte einen Kettenantrieb. Sie mussten darauf hoffen, dass sie weiter als die anderen fuhren und dadurch schneller das Ziel erreichten. Die leicht abschüssige Straße gab ihnen zusätzlich Fahrt mit auf den Weg. Erst nach ein paar hundert Metern kamen sie ins Ziel und wurden von jubelnden Eltern empfangen.
»Das sind Seifenkisten?«, fragte Daniel.
»Das sind ja richtig coole Dinger. So ein Auto will ich auch mal fahren. Das ist besser als jedes Computerspiel.« sagte Nick.
In diesem Moment erschien Attal. Unsichtbar war den Jungen gefolgt und alles mitbekommen.
»Habt ihr also doch Gefallen an den Spielen eurer Eltern und Großeltern gefunden? Die brauchten damals keine Computer und Fernseher. Sie waren von morgens bis abends draußen, spielten gemeinsam oder bastelten mit ihren Vätern an ihren Seifenkisten, um beim nächsten Rennen als Sieger ins Ziel zu fahren.«
Der Kobold holte erneut eine handvoll Staub aus seiner Tasche und blies sie fort. Ein weiteres Mal glitzerte es überall. Die Rennstrecke verschwand und machte dem alltäglichen Straßenverkehr platz. Die Jungen waren wieder in ihrer eigenen Zeit angelangt.
»Und nun habt ihr die Wahl, meine Freunde.«, sagte der Kobold.
»Entweder ihr geht alle einzeln nach Hause und setzt euch vor eure Computer und Fernseher oder ihr macht etwas gemeinsam.«
Nick und seine Freunde wussten genau, was sie nun unternehmen wollten. Sie dankten Attal und liefen so schnell es ging in den nächsten Laden und baten den Verkäufer um ein paar alte Holzkisten. Es wäre doch gelacht, wenn sie die alte Tradition der Seifenkistenrennen nicht wieder aufleben lassen könnten.
Und so begann für diese fünf Jungen der erste Tag mit wirklich richtig coolen Spielen.

(c) 2008, Marco Wittler

Ersten Kommentar schreiben

Antworten

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.


*