224. Wer streut dem Sandmännchen Sand in die Augen?

Wer streut dem Sandmännchen Sand in die Augen?

»Jetzt wird es aber langsam Zeit, dass du ins Bett verschwindest.«, rief Mama in der Küche.
Lina überhörte diese Aufforderung natürlich. Das tat sie jeden Abend. Denn es gab nichts langweiligeres, als abends ins Bett zu gehen.
Nach ein paar Minuten kam Mama ins Kinderzimmer.
»Was ist denn hier los? Ich dachte, du liegst schon lange in deinem Bett und wartest darauf, dass ich dir noch eine Geschichte erzähle.«
Lina zuckte verlegen mit den Schultern, bevor sie sich dann doch umzog und unter die Decke schlüpfte.
Mama zog inzwischen ein Buch aus dem Regal. Daraus las sie eine kurze Geschichte vor und wünschte ihrer Tochter anschließend eine gute Nacht.
»Morgen kannst du ja dann wieder weiter hier herum tollen. Aber gleich kommt das Sandmännchen und dann bist du ganz schnell eingeschlafen.«
Sie wollte gerade das Licht abschalten und das Zimmer verlassen, als Lina noch eine Frage stellte.
»Du Mama, jeden Abend kommt das Sandmännchen zu mir und streut mir seinen Sand in die Augen, damit ich einschlafe. Aber wer besucht nachts das Sandmännchen? Oder schläft es vielleicht nie?«
Mama schüttelte den Kopf und lachte.
»Du kannst vielleicht Fragen stellen. Aber darauf weiß ich leider keine Antwort. Aber es könnte sein, dass dir das Sandmännchen etwas darüber berichten wird, wenn es kommt. Natürlich nur, wenn du dann nicht schon längst schläfst.«
Mama zwinkerte mit einem Auge und verließ das Zimmer.
Linas Neugierde war geweckt. Würde sie tatsächlich in dieser Nacht das Sandmännchen sehen und ihm Fragen stellen dürfen?
Sie setzte sich im Bett hin und wartete. Die Zeit verging, aber es geschah einfach nichts.
»Wahrscheinlich kann es mich sehen und wird warten, bis ich wieder liege. Doch dann werde ich bestimmt einschlafen. Ich muss mir etwas einfallen lassen.«
Lina stand auf und holte ein paar Pullover aus ihrem Schrank. Diese stopfte sie dann unter die Decke, bis es so aussah, als würde jemand im Bett schlafen.
»Das klappt bestimmt. Jetzt muss ich mich nur noch verstecken.«
Schnell kroch sie unter ihren Schreibtisch und wartete.
Es mochten vielleicht zehn Minuten vergangen sein, als sich das Fenster ganz allein öffnete. Nur wenige Augenblicke später schwebte eine kleine Kutsche herein, auf deren Bock jemand saß.
»Das muss das Sandmännchen sein.«, flüsterte Lina aufgeregt.
Und tatsächlich war es so, wie sie vermutete. Das Sandmännchen landete und holte etwas Sand aus einem Beutel hervor.
»Schlaf gut, kleines Menschenkind.«, sagte es und warf den feinen, glitzernden Sand über das Bett.
»Morgen früh beginnt wieder ein goßartiger Tag. Das verspreche ich dir.«
Der nächtliche Besucher drehte sich um und wollte gerade wieder auf seine Kutsche steigen, als ein kleines Mädchen unter dem Schreibtisch hervor kam.
»Warte bitte kurz.«, sagte Lina.
Das Sandmännchen erschrak. Es blickte verwirrt zwischen dem Bett und dem wachen Mädchen hin und her.
»Solltest du nicht eigentlich dort unter der Decke liegen und selig schlafen?«
Lina nickte und grinste über das ganze Gesicht.
»Ich hab dich hereingelegt. Ich wollte dich unbedingt etwas fragen.«
Das Sandmännchen nahm sich einen Stuhl und bot Lina einen zweiten an. Sie setzten sich.
»Was könnte denn ein kleines Mädchen dem Sandmann für eine Frage stellen wollen?«
Lina konnte ihre Neugierde nicht mehr bremsen.
»Kommst du wirklich jede Nacht zu allen Kindern und streust ihnen Sand in die Augen, damit sie schlafen?«
Das Sandmännchen nickte.
»Ja, das ist meine Aufgabe, seit es Kinder gibt.«
»Aber wer kümmert sich um dich, wenn du ins Bett gehst? Du kannst dir noch nicht selbst etwas in die Augen streuen.«
Das Sandmännchen nahm seinen Sandbeutel vom Gürtel und hielt ihn dem kleinen Mädchen hin.
»Schau hinein. Das ist mein Schlafsand. Jeden Abend, wenn ich fertig bin, lasse auch ich mir etwas in die Augen streuen. Das letzte Kind, das ich besuche, bekommt diese ehrenvolle Aufgabe. Zufällig bist du das heute Abend. Ich hatte schon befürchtet, dass du bereits eingeschlafen bist. Deswegen wollte ich dich nicht wecken. Aber da du mir nun gegenüber sitzt, kommt mir das sehr gelegen.«
Das Sandmännchen forderte Lina auf, sich ins Bett zu legen. Es gab ihr ein wenig Sand in die Hand und setzte sich dann auf die schwebende Kutsche.
»Ich zähle gleich bis drei. Dann werfen wir gemeinsam den Schlafsand auf den anderen. Du wirst dann in deinem Bett einschlafen und ich auf meinem Bock. Die Kutsche bringt mich dann automatisch nach Hause und legt mich in meinem eigenen Bettchen ab. So geschieht das jeden Abend.
Nun war die spannende Frage beantwortet. Das Sandmännchen zählte bis drei. Ein Glitzern erfüllte den Raum und legte sich dann auf vier müde Augen.
Einen Moment, bevor Lina einschlief, fiel noch etwas anderes ein.
»Werde ich das Morgen auch wieder machen dürfen?«
Das Sandmännchen gähnte laut.
»Nein, denn Morgen ist ein anderes Kind dran.«
Es kuschelte sich zusammen, bevor es seinen gewohnten Nachtgruß sprach.
»Schlaf gut, kleines Menschenkind. Morgen früh beginnt wieder ein goßartiger Tag. Das verspreche ich dir.«
Aber Lina war bereits eingeschlafen.
Ohne ein weiteres Geräusch zu machen, schwebte die Kutsche davon.

(c) 2009, Marco Wittler

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