279. Pit

Pit

Malte war stinksauer.
»Gib mir sofort meinen Ball zurück.«, blaffte er seine kleine Schwester Marla an.
Marla lachte allerdings nur und freute sich in ihrem Kinderwagen so sehr über ihre Beute. Mit ihren kleinen Ärmchen wedelte sie nun hin und her und brabbelte unverständliche Worte vor sich hin.
Malte wurde es zu bunt. Er wollte gerade zugreifen, als seiner Schwester der Hand aus den Fingerchen rutschte. Er hüpfte ein paar Mal über den Boden, sprang über das Balkongeländer und hinab. Noch bevor er am Boden aufschlug, verschwand er in einem Busch.
»Jetzt sieh dir an, was du angestellt hast. Mama wird bestimmt mit dir schimpfen.«
Malte wurde knallrot im Gesicht. Doch er wusste, dass der ganze Ärger nichts brachte. Seine Schwester war einfach zu klein, um den Ball wieder nach oben zu holen.
Malte sah vorsichtig über das Geländer.
»Ich kann ihn nicht entdecken. Wenn ich doch bloß gesehen habe, wo er hin ist. Ich werde ihn bestimmt nie wieder zurück kriegen. Das war doch mein Lieblingsball.«
Fast wären ihm ein paar Tränen die Wangen herab gekullert. Doch das durfte auf keinen Fall jemand sehen. Also zog er einmal kräftig die Nase hoch und stemmte seine Fäuste in die Seiten.
»Ich geh jetzt meinen Ball suchen. Du bleibst hier, Marla und machst keine Dummheiten.«
Doch als er gerade aus der Wohnung flitzen wollte, sprang der zurück auf den Balkon.
»Huch, wie ist denn das passiert?«
Ungläubig sah Malte noch einmal nach unten. Doch da war niemand.
»Da stimmt doch etwas nicht.«
Er entschloss sich dazu, den Ball ein weiteres Mal in den Hof fallen zu lassen und warf ihn dieses Mal selbst über das Geländer. Es dauerte nur Sekunden, bis er wieder zurück kam.
»Da will mich doch jemand veräppeln.«
Malte warf einen neugierigen Blick nach unten und entdeckte einen dunklen Schatten, der schnell im Busch verschwand.
»Da ist doch jemand. Mama darf ich runter gehen? Ich will wissen, wer mir den Ball zurück wirft.«
Mama war völlig in ein dickes Buch vertieft und bekam gar nicht genau mit, was sie gefragt wurde. Sie nickte einfach.
»Bleib aber nicht zu lange weg. Es wird bald dunkel.«
Malte lief los. Mit schnellen Schritten rannte er die Treppe hinab und stand schon bald im Hof vor dem Busch.
»Hallo?«
Er wartete auf eine Antwort, bekam aber nur ein heiser klingendes Husten zu hören.
»Wer ist denn da?«
Das Geräusch wieder sich noch einmal. Doch dann raschelten die Blätter hin und her, bis ein dunkelgraues Geschöpf aus dem Busch gekrabbelt kam. Aus seinem Maul kam das laute Husten.
»Hast du mir meinen Ball zurück geworfen?«, wollte Malte wissen.
Und um seine Frage zu bestätigen, warf er dem Tier seinen Ball. Mit großer Geschicklichkeit fing es den Ball mit seiner Nase auf, balancierte ihn ein paar Sekunden lang darauf und warf ihn dann wieder zurück. Dann klatschte es vor Freude mit seinen flossenähnlichen Vorderbeinen.

Ein paar Minuten später hörte Mama die Wohnungstür.
»Malte? Wo war du denn?«, fragte sie überrascht.
»Aber ich war doch unten im Hof. Du hast es mir erlaubt.«, war die knappe Antwort.
Mama erinnerte sich. Ja, da war doch etwas gewesen.
»Hast du denn den heimlichen Ballwerfer gefunden?«, hakte sie nach.
Mal bejahte und kam mit einem dunklen Schatten in das Wohnzimmer.
»Das ist Pit, mein neuer Freund. Mit ihm kann man richtig prima spielen.«
Mama stockte der Atem.
»Aber das ist doch ein Seehund. Den können wir unmöglich behalten. Das geht doch gar nicht. Was soll denn Papa dazu sagen.«
Sie war geschockt und bekam etwas Angst.
»Und geh nicht zu nah an das Tier dran. Es könnte dich beißen.«
Doch Malte störte das nicht und ließ sich sofort von Pit einen dicken Kuss auf die Wange drücken.
»Sieht du, er ist ganz harmlos.«

Eine ganze Stunde lang saßen sie nun schon auf dem Balkon und warteten. Malte und Pit saßen auf der einen, Mama etwas ängstlich auf der anderen Seite. Marla stand mit ihrem Kinderwagen lachend dazwischen, bestaunte den Seehund mit großen Augen und lachte ohne Pause vor sich hin.
In diesem Moment kam Papa von der Arbeit nach Hause. Sofort hörte er das heisere Hüsteln von draußen.
»Nein.«, entfuhr es ihm überraschend.
»Ist das etwa ein …«
Und dann stand er Pit gegenüber. Fast wären ihm die Augen aus dem Kopf gefallen.
»… richter Seehund?«
Papa streichelte dem Tier über den Kopf.
»Wo habt ihr denn her? Dürfen wir ihn behalten?«
Er schien sich noch mehr zu freuen als Malte.
»Also so ein geniales Geschenk hast du mir noch nie gemacht, Schatz. Du kannst die gar nicht vorstellen, wie ich mich freue.«
Da fiel Mama ein, dass sie Papas Geburtstag vergessen hatte.
»Oh. Ja. Nein. Achso. Richtig.«, stammelte sie.
»Ja, dein Geburtstagsgeschenk. Herzlichen Glückwunsch.«
Sie drückte Papa einen Kuss auf die Wange und wurde ganz rot im Gesicht.
»Selbstverständlich darfst du ihn behalten.«
Und so wurde die kleine Familie um ein weiteres Mitglied größer.
Pit bekam ein eigenes Schwimmbecken im Hof und ein Gehege in dem er sich austoben konnte. Doch die meiste Zeit verbrachte er zusammen mit Mama in der Küche, die sich nun auch an ihn gewöhnt hatte und ihn nie wieder weg geben wollte.

(2009), Marco Wittler

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