328. Über den Bach

Über den Bach

Durch die große Wiese und am Spielplatz vorbei führte ein kleiner Bach. Die vielen Kinder, die sich hier den schönen Tag vertrieben, sprangen immer wieder von einem Ufer zum anderen. Dazu mussten sie nicht einmal großen Anlauf nehmen. Ein kleiner Hopser genügte.
Dieses bunte Treiben wurde unbemerkt von zwei kleinen Ameisen beobachtet.
»Schau dir nur die Menschenkinder an.«, sagte Pips.
»Ich möchte auch einmal auf die andere Seite des Wassers. Vielleicht ist die Welt dort ganz anders. Wolltest du das nicht auch schon immer mal wissen?«
Fips, die zweite Ameise kratzte sich am Kopf.
»Um ehrlich zu sein, darüber habe ich noch nie nachgedacht. Ich war eigentlich schon immer glücklich auf unserer Seite. Aber jetzt, wo du es erwähnst, wäre es doch mal einen Versuch wert, sich das andere Ufer anzuschauen.«
Gemeinsam liefen sich vorbei an hohen Grashalmen und Blumen, bis sie das Wasser erreicht hatten. Sie sahen nach links und rechts und überlegten, was nun zu tun sei.
»Eine Brücke gibt es nicht. Und schwimmen können wir auch nicht. Wenn wir einfach so in den Bach steigen, wird uns die Strömung fort reißen. Wir würden jämmerlich ertrinken.«
Fips wusste sich keinen Rat und wäre gern sofort umgekehrt.
»Das war eine ganz dumme Idee.«
Aber Pips hatte schon einem Plan gearbeitet, den er nun in die Tat umsetzen wollte. Er kletterte auf eine Blume, hangelte sich an einem Stiel entlang und biss ein großes Blatt ab. Dann kam er wieder zurück auf den Boden.
»Wir werden das Blatt als Boot benutzen. Es ist leicht genug, um auf dem Wasser zu schwimmen. Wir müssen uns nur noch darauf setzen und zur anderen Seite paddeln.«
Und so setzten sie das Blatt auf den Bach, kletterten darauf und stießen sich vom Ufer ab.
Langsam setzten sie sich in Bewegung und kamen tatsächlich vorwärts. Fips war zunächst nicht wohl bei der Sache. Doch dann machte es ihm langsam richtig Spaß.
»Mein Freund, das war die beste Idee deines Lebens. Du bist ein Genie.«
Doch in diesem Moment wurde das Blatt von der Strömung ergriffen und raste den Bachlauf entlang.
»Du meine Güte.«, rief Fips entsetzt.
»Wie sollen wir denn jetzt überhaupt nur eines der beiden Ufer erreichen, wenn wir den ganzen Bach entlang schippern? Das war doch keine gute Idee.«
Doch selbst an diesem Problem schien Pips schon zu arbeiten. Er lief im Kreis, sah sich das Blatt ganz genau an und zog hin und wieder an den Rändern.
Schließlich grinste er breit.
»Du musst mir helfen.«, rief er seinem Freund zu.
Gemeinsam stellten sie sich auf die vorderste Spitze des Blattes.
»Sobald ein neuer Windstoß kommt, ziehen wir den Rand hoch.«
Fips nickte unsicher, ergriff mit seinen Händen aber sofort das Blatt. Sekunden später pfiff ein Wind über den Bach. Die zwei Ameisen zogen den Rand hoch und staunten, denn von einer Sekunde zur anderen wurden sich hoch in die Luft gehoben und segelten über die Wiese hinweg. Es ging hin und her, rauf und runter, bis sie schließlich sicher auf dem Boden zwischen den Gräsern landeten.
»Siehst du.«, sagte Pips und grinste.
»Wir haben es geschafft und sind sicher angekommen.«
Fips grinste nun auch.
»Ja, es hat richtig Spaß gemacht. Aber geschafft haben wir es trotzdem nicht, denn wir sind auf unserer Seite des Baches gelandet.«
Pips sah sich um, blickte zur anderen Seite des Baches und seufzte.
»Wir sind immer noch da, wo wir immer waren. Aber zumindest haben wir ein spannendes Abenteuer erlebt.«
Dem konnte auch Fips nicht widersprechen.

(c) 2010, Marco Wittler

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