120. Der Bücherwurm

Der Bücherwurm

Es war einmal ein kleiner Wurm mit Namen Albert. Er war wie alle anderen Würmer auch. Er kroch vom frühen Morgen bis zum späten Abend durch die Erde und grub unendlich viele Löcher. Eigentlich hätte er mit seinem Leben richtig zufrieden sein können. Aber er war es nicht. In jeder wachen Minute dachte er darüber nach, was der Sinn seines Lebens sein könnte. Es musste da doch noch mehr geben, als jeden Tag zu Graben und zu Buddeln.
Nach und nach traf er andere Würmer und fragte sie nach dem Sinn in ihrem Leben. Aber er bekam immer die gleiche Antwort: ›Ein Wurm ist ein Wurm und hat sich auch nur Dinge zu kümmern, für die ein Wurm zuständig ist. Er gräbt.‹
Es war zum aus der Haut fahren. Niemand hatte je über sein Leben nachgedacht.
Albert gab sich aber nicht damit zufrieden. Er machte sich auf die Suche nach einer Antwort.
Zum ersten Mal in seinem Leben grub er einen Tunnel, der nach oben führte. Aus den Erzählungen seines Opas hatte er erfahren, dass es dort eine andere Welt geben würde. Vielleicht konnte dort jemand die große Frage beantworten.
Es dauerte eine ganze Weile, bis Albert an der Oberfläche angekommen war. Er durchbohrte den Boden und sah zum ersten Mal in seinem Leben das Licht der Sonne. Er wollte seinen Augen nicht trauen.
»Unglaublich, wie viel Licht diese Welt zu bieten hat.«
Er warf noch einen letzten Blick auf seine kleine Lampe, die er nun ohne ein Zögern zurück lies.
Der kleine Wurm kroch durch eine große Wiese und sah sich genau um. Überall gab es Leben. Mit jedem neuen Atemzug entdeckte er ein neues Tier. So schön war es in der Dunkelheit unter der Erde nie gewesen. Fast hätte er sogar vergessen, warum er gekommen war.
Er erspähte ein Eichhörnchen, das wie wild zwischen der Wiese und einem Baum hin und her wuselte. Es musste unglaublich beschäftigt sein. Trotzdem sprach er es an.
»Den Sinn des Lebens suchst du? Ja siehst du den denn nicht? Du musst Nüsse für den Winter sammeln, denn dann gibt es kaum noch was zu fressen. Und jetzt stör mich nicht weiter. Ich werde sonst nicht mehr rechtzeitig fertig.«
Und schon setzte es seinen Weg weiter fort.
Albert war verwirrt. Nüsse sammeln? Nein, das konnte unmöglich alles gewesen sein. Außerdem mochte er Nüsse überhaupt nicht. Er kroch also weiter und suchte sich jemand anderen, um sich einen Rat zu holen. Auf einer Rose saß eine fette Raupe. Genüsslich knabberte sie am Blattwerk und drohte ständig unter ihrem Gewicht herab zu fallen. Fast hätte sie sogar ein Wurm sein können, aber dafür besaß sie eindeutig zu viele Beine.
»Entschuldige bitte.«, unterbrach Albert sie. »Kannst du mir vielleicht verraten, was der Sinn des Lebens ist? Ich suche gerade danach, aber dieses verrückte Eichhörnchen hatte nur die Vorbereitungen für den Winter im Kopf.«
Die Raupe unterbrach ihr Mahl und rülpste laut.
»Was unterbrichst du mich? Wenn ich mich mit dir aufhalte, könnte ich verhungern. Siehst du denn nicht, dass ich genau weiß, dass der Sinn des Lebens darin besteht, so viel wie möglich zu essen? Ich habe mit meinem Freund gewettet, dass ich die Rose bis zum Ende der Woche verputzt habe. Also halte mich nicht länger auf und kriech deines Weges weiter.«
Albert war enttäuscht. So einen unfreundlichen Gesellen hatte er auf so einer schönen Welt nicht erwartet. Daher befolgte er Lieber diesen Rat und suchte nach einem anderen Helfer.
»Juppiduh und Jippijey. Das Leben ist schön.«, schallte es plötzlich vom Himmel herab.
Der kleine Wurm war zuerst verwirrt, bis er schließlich sah, woher diese Stimme kam. Über ihm sauste ein Grashüpfer hin und her.
»Der sieht aber lustig und freundlich aus. Vielleicht kann er mir ja helfen.«
Hoffnung machte sich in Albert breit. Also rief er den grünen Springer und lockte ihn so zu Boden.
»Aber sicher kenne ich den Sinn des Lebens, mein kleiner Freund. Was meinst du wohl, warum ich so vergnügt bin?«, sagte der Grashüpfer.
»Schon meine Mutter hat ihn mir erklärt und mir geraten, sich immer daran zu halten. Dann bleibt man sein Leben lang glücklich und zufrieden. Also nimm deine Beine in die Hand und hüpfe durch die Welt, dass es nur so kracht. Dann wird dir alles andere egal sein.«
Und schon sprang er wieder weit in den Himmel hinein und war verschwunden.
Albert war enttäuscht. Er sah an sich entlang. Aber dort war nur das, was er erwartet hatte. Er besaß einen langen Körper, der sich überall hindurch schlängeln konnte, aber keine Beine. Er musste wohl doch am Boden bleiben.
»Ach schade. Das ist dann auch wieder nicht das Richtige für mich. Da muss es doch noch etwas anderes geben. Was mache ich denn nur?«
Plötzlich senkte sich eine lange Liane zum Boden herab. Der kleine Wurm erschrak zuerst, doch dann sah er ein pelziges Tier daran hängen, welches laut gähnte.
»Wer bist denn du?«, fragte Albert.
»Siehst du das denn nicht? Ich bin ein Faultier. Und ich bin schrecklich müde.«
Erneut gähnte es laut und kratzte sich gemütlich am ganzen Körper.
»Was treibt dich denn her? Suchst du etwas?«
Der kleine Wurm sah auf einmal ganz traurig aus und erzählte schließlich, was er suchte und was er dabei bisher erfahren hatte.
Das Faultier hätte vor Erstaunen beinahe ganz große Augen gemacht, doch dazu war es dann doch zu faul.
»Weißt du was? Ich werde dir nicht nur sagen, sondern auch zeigen, was der wahre Sinn des Lebens ist.«
Damit packte es sich Albert ganz langsam und vorsichtig und verschwand mit ihm im Blattwerk eines hohen Baumes. Dort schlief es dann sofort ein und begann laut zu schnarchen.
Der Wurm war überrascht. Sollte er denn nicht endlich die Antwort auf seine Frage erhalten?
»Worin besteht denn nun der Sinn des Lebens? Ich dachte, du wolltest mir helfen.«
Er rüttelte und schüttelte an der Nase, die direkt vor ihm war. Das Faultier wurde wieder wach und war verdutzt.
»Siehst du es denn nicht? Schlafen, mein kleiner Freund. Schlafen ist das einzig Wichtige im Leben. Also schließ deine Augen und schlaf.«
Es gähnte noch einmal und begann erneut zu schnarchen.
Albert reichte das nicht. Schlafen füllte das Leben doch gar nicht aus.
»Ich will doch mehr aus mir machen.«
Er kroch wieder zum Boden herab. Dort war er aber zu sehr mit seinem Problem beschäftigt, dass er gar nicht bemerkte, dass sein Leben plötzlich bedroht wurde. Nur der Aufmerksamkeit eines riesigen Tieres hatte er es zu verdanken, dass er nicht zerquetscht wurde.
»Huch, was ist denn das?«, sagte der Bär, der gerade auf dem Weg zu einem Bad im nahen See war.
»Fast wäre ich auf die getreten. Du musst besser auf die aufpassen kleiner Wurm. Hier oben lauern viele Gefahren auf dich. Es könnte sogar geschehen, dass sich ein Vogel vom Himmel herab stürzt und dich frisst.«
Albert winkte ab.
»Das wäre mir mittlerweile auch egal. Ich bin her gekommen, um nach dem Sinn des Lebens zu suchen, weil ich mehr erleben will, als immer nur in der Erde zu leben und Tunnel zu graben. Ich will Abenteuer erleben, wilde Geschichten und mehr. Und dann will ich den anderen davon berichten können. Aber niemand hilft mir dabei. Also kann mich auch ruhig jemand zertreten oder fressen.«
Der Bär beugte sich vor und nahm den Wurm vorsichtig in seine Hand.
»Du willst also viel erleben und anderen davon erzählen?«
Albert nickte.
»Dann will ich dir etwas sagen. Der Sinn des Lebens besteht nicht darin, jemanden danach zu befragen. Jeder von uns hat seinen Sinn in etwas anderem gefunden. Ein Hund schnüffelt nur zu gern in der Gegend herum und jagt Katzen. Kleine Mäuse ärgern gern die Menschen und knabbern deren Vorräte an. Und ein großer Bär lümmelt nur zu gern im Badesee herum. Wir alle sind so verschieden, dass für jeden etwas anderes wichtig ist.«
Albert begriff nun, dass seine Suche gar nicht erfolgreich werden konnte. Er hatte etwas finden wollen, was es gar nicht gab. Und doch war er der Antwort näher als je zuvor.
»Ich geb dir einen Rat, kleiner Wurm. Ein Abenteuer hast ja nun schon erlebt. Welcher deiner Artgenossen hat schon so viel Zeit hier oben verbracht und mit so vielen verschiedenen Tieren geredet? Niemand außer dir würde ich wetten. Also schreib es in ein dickes Buch. Deine Artgenossen werden es ganz bestimmt unheimlich gern lesen und mehr über die Welt unter der Sonne erfahren wollen. Und wenn du fertig bist, dann kommst du zurück und erlebst dein zweites Abenteuer.«
Albert bekam plötzlich leuchtende Augen. War das nun der Sinn seines Lebens? Er wusste es noch immer nicht. Aber dafür hatte er eine Aufgabe gefunden, die ihm Spaß machen würde und seine Wünsche erfüllte.
Er verabschiedete sich vom Bär, kroch zurück unter die Erde und begann, das erste Kapitel seines Buches zu schreiben.

(c) 2008, Marco Wittler

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