147. Der vergessliche König oder „Papa, was ist denn das Echo?“ (Papa erklärt die Welt 23)

Der vergessliche König
oder ›Papa, was ist denn das Echo?‹

Sofie mühte sich einen Berg hinauf. An ihren Schultern hing ein gut gefüllter Rücksack und hinter hier schnaufte Papa den Weg entlang.
»Wie weit ist es denn noch bis zum Gipfel?«, fragte sie erschöpft.
»Es ist nicht mehr weit.«, antwortete Papa.
»Wir sollten in ein paar Minuten angekommen sein.«
Und er behielt Recht. Schon ein wenig später ging es nicht mehr weiter. Sie hatten die Bergspitze erreicht. Über ihnen gab es nur noch den Himmel.
»Hui, von hier aus hat man aber eine tolle Aussicht.«, schwärmte Sofie.
Sofort holte sie ihre kleine Kamera aus dem Rucksack und schoss ein paar Fotos in alle Himmelsrichtungen. Doch dann fiel ihr etwas auf.
»Warum steht hier oben eigentlich ein so großes Kreuz? Hier finden doch bestimmt keine Gottesdienste statt.«
Papa musste lachen.
»Das nicht. Aber das Kreuz markiert genau den höchsten Punkt des Berges. Und in dem Kreuz ist ein kleines Buch versteckt, in dem sich jeder eintragen darf, der es bis hierher geschafft hat.«
Sofie umrundete das Kreuz mehrfach, bis sie tatsächlich hinter einer unscheinbaren Klappe ein kleines Heft und einen Stift fand.
»Schreiben wir da jetzt auch unsere Namen rein?«
Papa nickte. Er hielt seiner kleinen Tochter das Buch hin und half ihr bei den einzelnen Buchstaben, da sie noch ein Kindergartenkind war. Dann setzte er seinen Namen dazu und tat ebenso unbeholfen.
Sofie strahlte über das ganze Gesicht. Dies war der erste Berg, den sie komplett bestiegen hatte.
»Juhu!«, rief sie, so laut sie nur konnte.
»Juhu!«, rief kurz darauf jemand zurück.
Irritiert sah sie sich um. Es war aber weit und breit niemand zu sehen.
»Was war denn das? Will mich da jemand veralbern? Ich kann niemanden außer uns entdecken.«
Sofort verfinsterte sich ihre Miene.
»Du hast doch wohl nicht mich im Verdacht?«
Papa nahm sich seine kleine Tochter auf den Schoß.
»Was du gehört hast, ist das Echo. Es wiederholt alles, was man laut gerufen hat.«
Sofie sah ihn ungläubig an.
»Papa, was ist denn das Echo?«
Er hielt inne, kratzte sich am Kinn und dachte nach.
»Das ist eine gute Frage. Dazu fällt mir eine Geschichte ein, die ich erst kürzlich gehört habe. Sie handelt zufällig von der Entstehung des Echos. Und die werde ich dir jetzt erzählen.«
Sofie strahlte über das ganze Gesicht.
»Oh ja, eine Geschichte.«
»Und wie fängt eine Geschichte immer an?«, fragte Papa.
Sofie lachte schon voller Vorfreude und antwortete: »Ich weiß es. Sie beginnt mit den Worten ›Es war einmal‹.«
»Ja, das stimmt. Absolut richtig. Also, es war einmal …«

Es war einmal ein alter König. Er herrschte über ein großes Reich mitten in den Bergen. Und auf der höchsten Spitze stand sein stattliches Schloss. Jeden Morgen ging er auf seinen Balkon, sah über sein Land hinweg und war mit sich zufrieden.
»Ach, ist das ein schöner Tag heute. Dieses Wetter ist eines Königs wert.«
Danach betrat er seinen Thronsaal und hörte sich die Probleme seiner Bürger an.
Nach und nach kamen die Bauern seiner Ländereien herein und erzählten von den schlechten Ernten. Daraufhin ließ der König seine Getreidespeicher öffnen, damit das Volk genug zu Essen bekam.
Auch die normalen Bürger kamen zu einer Audienz. Sie berichteten von Dieben, Verbrechern und gemeinen Überfällen. Auch dafür hatte der weise König eine Lösung. Er schickte seine Ritter in die Städte, um für Ruhe und Ordnung zu sorgen.
Doch mit der Zeit wurde der König immer älter. Sein Bart wurde länger, seine Haare weißer und sein Gedächtnis etwas schlechter.

Eines schönen Morgens stand er wieder auf seinem Balkon und erfreute sich ein weiteres Mal an seinem Reich.
»Ach, ist das herrlich heute. Nur zu gern würde ich mein Pferd satteln und durch die Wälder reiten.«
Während er sich ankleidete dachte er über etwas nach. Dann ging er erneut auf seinen Balkon und erfreute sich ein weiteres Mal an der Aussicht.
»Ach, ist das herrlich heute.«
Der König verzog das Gesicht. Irgendwas stimmte da nicht.
»War ich heute nicht schon hier? Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern. Das ist ja seltsam.«
Nachdenklich ging er in seinen Thronsaal und hörte sich die Sorgen seines Volkes an und versuchte, ihre Probleme zu lösen.
Am Abend legte er sich mit einem unguten Gefühl ins Bett.

Ein weiterer Tag brach an. Der König stellte sich auf seinen Balkon und begrüßte die aufgehende Sonne.
»Ach, wie herrlich du dein Licht über mein Land strahlst. Meine Weinbauern werden es dir danken.«
Er zog sich seine Sachen an, putzte sich die Zähne und betrat seinen Balkon.
»Ach, wie herrlich die Sonne heute scheint.«
Erneut verfiel er ins Grübeln.
»Nein, nein, nein. Das darf doch nicht war sein. Mein Gedächtnis wird immer schlechter. Ich muss etwas unternehmen, sonst werde ich eines Tages mein Reich nicht mehr richtig regieren können.«
Etwas nachdenklich begab er sich wieder in seinen Thronsaal, um sich die Probleme seines Volkes anzuhören. Noch immer gab er sich viel Mühe für alles eine Lösung zu finden, doch heute war er nicht so richtig bei der Sache. In seinem Kopf dachte er ständig über sein schlechtes Gedächtnis nach, sofern er selbst das nicht gerade wieder vergessen hatte.
Kurz vor der Mittagszeit kam ein junger Mann vor den König. Mit einer ungewöhnlich lauten Stimme brachte er sein Leid vor.
»Eure Majestät. Ich leide darunter, dass ich keine Arbeit finde und bettelarm bin. Aber niemand will einen Mann einstellen, der so laut redet wie ich. Aber ich kann nicht anders. Das ist mir angeboren.«
Der König überlegte. So etwas Außergewöhnliches hatte er noch nie gehört. Daher bat er alle anderen Besucher, am nächsten Tag zurück zum Schloss zu kommen. Für dieses Anliegen brauchte er viel mehr Bedenkzeit. Außerdem wollte er sich mit dem jungen Burschen beraten.

Den ganzen Tag saßen die beiden nun im königlichen Arbeitszimmer. Der König murmelte meist vor sich hin, während man den Bürger noch außerhalb der Schlossmauern hören konnte.
Doch plötzlich hatte der König eine Idee.
»Ich hab es. So können wir gleich zwei Probleme auf einmal lösen.«
Der junge Mann sah auf einmal sehr glücklich aus. Er hatte schon gar nicht mehr damit gerechnet, dass ihm jemand helfen würde.
»Erzählt mir bitte von eurem Einfall. Ich werde alles für euch machen.«
»Nun gut. Ich leide selber seit einiger Zeit unter einem großen Problem. Ich werde von Tag zu Tag vergesslicher. Zumindest geht es mir in den Morgenstunden so. Wenn ich auf meinem Balkon stehe und die Sonne begrüße, vergesse ich fast sofort, dass ich es auch getan habe.«
Der Bursche verstand noch nicht, was sein König sich ausgedacht hatte.
»Ich werde dir ein Haus auf einem der umliegenden Berggipfeln bauen lassen. Dort kannst du den Rest deines Lebens verbringen. Und jeden Morgen, wenn ich den Tag begrüße, wirst du mir zuhören und anschließen laut wiederholen, was ich gesagt habe. Dadurch wird es mir dann auch im Gedächtnis verbleiben.«

Und so geschah es dann auch ein paar Wochen später. Auf einem nahen Berg wurde ein stattliches Haus gebaut, in dem der Bursche von nun an lebte.
Jeden Morgen stand er beim ersten Hahnenschrei auf und wiederholte des Königs Worte. Diese Aufgabe machte ihm sogar so viel Spaß, dass er auch alles andere nachplapperte, was Besucher in den Bergen sprachen.

»Und so soll das Echo entstanden sein?«
Sofie schaute ungläubig. Papa nickte.
»Das ist die reine Wahrheit. Ich habe das Haus des Echo selbst einmal gesehen.«
Sofie sah sich um, konnte aber nichts entdecken. Papa sah sich schnell um und verwies mit seinem Zeigefinger auf einen kleineren Berg, der in einer Wolke versteckt war.
»Dort ist es. Nur leider kann man es wegen des Wetters gerade nicht sehen.«
Nun musste Sofie lachen. Sie nahm Papa an die Hand und gemeinsam machten sie sich auf den Weg zurück ins Tal.
»Die Geschichte hat mir sehr gut gefallen. Aber trotzdem glaube ich dir davon kein einziges Wort.

(c) 2008, Marco Wittler

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