205. Das Strichmännchen

Das Strichmännchen

Eines Tages saß ein Märchenerzähler an seinem Schreibtisch. Er überlegte, worüber er etwas Schreiben könnte. Es fielen ihm allerdings keine Ideen ein. Er hatte das Gefühl, als wäre sein Kopf völlig leer.
Nach und nach blätterte er große Papierstapel und seine Bücher durch.
»Das gibt es schon. Das hab ich auch bereits geschrieben.«
Es wollte ihm einfach nichts einfallen. So ein Problem hatte er noch nie erlebt. Schon vielen ihm seine vielen Leser ein, die bestimmt enttäuscht sein würden, wenn es nichts mehr zu lesen gab. Also begann der Märchenerzähler, ein wenig auf seinem Blatt zu kritzeln.
Nach und nach entstanden einfache, kleine Zeichnungen. Da waren ein Haus, ein Baum und eine große Burg. Als letztes entstand ein kleines Strichmännchen. Doch in dem Moment, als es fertig war, begann es plötzlich zu leben.
»Huch, was ist denn das?«, wunderte sich der Märchenerzähler.
»Wie kann sich denn ein Bildchen von allein bewegen?«
Das Männchen lief auf dem Blatt hin und her, kam jedoch am Rand nicht weiter. Also machte es einen kräftigen Sprung und landete mitten auf dem Schreibtisch.
Was es nun tat, war lustig anzusehen. Zuerst sah es sich in seiner neuen Umgebung genau um, bevor es vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzte. Ungewohnt stolperte es hin und her, stieß eine Kaffeetasse um und warf ein paar Bleistifte auf den Boden.
Vor Schreck flitzte es hin und her, versteckte sich schließlich hinter einer Schreibtischlampe und zitterte am ganzen Körper.
»Na sowas, kleiner Mann. Du musst doch keine Angst haben, wenn etwas auf den Boden fällt. Es ist doch nichts passiert.«
Langsam schob der Märchenerzähler seinen Zingerfinger auf die Lampe zu und forderte das Strichmännchen auf, darauf zu klettern.
Zuerst traute es sich nicht so recht. Doch dann wurde es mutiger und wagte es. Vorsichtig setzte es einen Fuß vor den anderen, bis es schließlich auf dem Finger saß.
»Das ist ja ein komisches Gefühl.«, sagte sich der Märchenerzähler.
Er nahm das Strichmännchen hoch und betrachtete es von allen Seiten.
»Ich hätte nie gedacht, dass einmal eine Zeichnung zu leben beginnen würde. Wie konnte das nur geschehen?«
In diesem Moment kam ihm eine Idee. Er suchte nach einem kleinen Notizzettel, der auf dem Tisch liegen musste. Es war die Telefonnummer eines Reporters.
»Das muss die Welt unbedingt erfahren.«
Das Strichmännchen war von diesem Einfall gar nicht begeistert. Es wollte einfach nur machen, wozu es Lust hatte. Es sprang wieder vom Finger herunter, nahm sich einen Stift und kritzelte wilde Kreise auf das Papier.
»Hey, du kannst doch nicht einfach über meine angefangene Geschichte malen.«, beschwerte sich der Märchenerzähler.
»So weiß ich doch nicht mehr, was ich geschrieben habe.«
Aber das kleine Männchen ließ sich nicht mehr aufhalten. Es hatte viel zu viel Gefallen daran gefunden, den Menschen zu ärgern.«
Der Märchenerzähler war verzweifelt. Was sollte er nun machen? Da fiel sein Blick auf einen großen Radiergummi. Er nahm ihn zur Hand und radierte das Strichmännchen einfach weg.
»Moment mal. Das ist es.«
In diesem Moment hatte er eine Idee. Lange genug hatte er nach einem Einfall gesucht. Nun nahm er eine neues Blatt Papier und begann, eine Geschichte über ein lebendiges Strichmännchen zu schreiben.
»Das wird meinen Lesern bestimmt gefallen.«
Als eine Stunde später fertig war, tat es ihm leid, dass er das Strichmännchen ausradiert hatte. Also nahm er noch einmal einen Bleistift und zeichnete es ein zweites Mal. Ein paar Sekunden später sprang das Männchen wieder aus dem Papier und jubelte über seine zweite Chance, Schabernack treiben zu dürfen.

(c) 2009, Marco Wittler

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