483. Alte Bäume

Alte Bäume

Der Frühling war wieder da. Die Tage wurden länger, die Nächte kürzer und die Temperaturen wärmer. Die Menschen ließen ihre dicken Jacken im Keller verschwinden. Dafür tauchten überall die bunten Blumen wieder auf. Überall summten kleine Bienen, Hummeln und Fliegen. Der kalte, dunkle Winter musste sich in den verdienten Winter verziehen.
Mittlerweile wurden auch die Bäume in den Wäldern, Parks und an den Straßen wieder grün. Ihre Äste waren übersät mit grünen Blättern, die bald kühlen Schatten für die heißen Sommertage spenden würden.
Doch leider wurden nicht alle Bäume so grün. Denn bei alten Bäumen ist es, wie bei alten Männern. Den Männern gehen die Haare aus und sie bekommen eine Glatze. Alten Bäumen fehlen irgendwann die Blätter. Dann stehen sie nur noch mit nackten Ästen herum.
Die Menschen denken dann immer, die Bäume wären krank und sägen sie weg, damit Platz für einen neuen Baum ist.
In diesem Frühling war es aber anders. Die alten Bäume wollten sich das nicht mehr gefallen lassen. Deswegen liefen sie eines Nachts davon und versteckten sich gemeinsam vor den gefährlichen Sägen. Aber das war alles andere als einfach. Als großer, ausgewachsener Baum findet man nicht so einfach ein gutes Versteck. Egal, wo sie einen Unterschlupf fanden, die Menschen kamen ihnen sehr schnell auf die Spur.
Irgendwann standen die Bäume mit gepackten Koffern am Bahnhof. In der Stadt konnten sie nicht mehr bleiben, also wollten sie weit weg, wo sie niemand mehr finden konnte. Sie kauften sich Fahrkarten, setzten sich in den Zug und fuhren davon.
Sie fuhren von einem Ende der Welt zum anderen. Sie fuhren in den Norden, in den Süden, nach Ost und nach West. Aber nirgendwo fanden sie das perfekte Versteck vor den Menschen.
Irgendwann stiegen sie ganz verzweifelt auf einen einsamen Berg. »Dort oben werden wir Ruhe finden. Die Menschen werden uns bestimmt nicht so weit folgen. Auf den Bergen ist es kalt und windig.«
Die kletterten weit hinauf, bis sie an die Wolken stießen.
»Lasst euch davon nicht abhalten. Wir müssen weiter.«
Doch dann geschah etwas Seltsames. Die Wolken verfingen sich in den nackten Ästen. Teile von ihnen blieben an den Bäumen hängen.
»Schaut euch das an.« waren die Bäume begeistert. »Wir sehen wieder jung aus.«
Es hatten sich tatsächlich prächtige, weiße Kronen gebildet, die ihre nackten Äste bedeckten.
»Jetzt sehen wir wieder gut aus und müssen uns nie wieder verstecken.«
Also kehrten sie in die Stadt zurück und wurden nun von den Menschen als Wolkenbäume bewundert.

(c) 2014, Marco Wittler

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