659. Der Märchen-Baukasten

Der Märchen-Baukasten

Papa kam ins Kinderzimmer und setzte sich ans Bett seiner kleinen Tochter Emma. Diese hatte schon auf ihn gewartet, denn es war bald Zeit zu schlafen. Doch vorher wollte sie noch ein Märchen vorgelesen bekommen.
»Was möchtest du denn heute Abend hören?«, fragte Papa.
Emma grinste. »Das weißt du doch. Ich will das Märchen vom Froschkönig und der eingebildeten Prinzessin hören. Das ist mein Lieblingsmärchen.«
Papa seufzte. Er konnte schon nicht mehr zählen, wie oft er dieses Märchen schon vorgelesen hatte. Er kannte es mittlerweile komplett auswendig. Wahrscheinlich brauchte er nicht mal mehr das dicke Märchenbuch aus dem Schrank zu holen. Auch Emma konnte den Froschkönig Wort für Wort mitsprechen. Wenn Papa mal ein Wort vergaß, übersprang oder vertauschte, verbesserte sie ihn sofort.
»Meinst du nicht, dass wir mal etwas anderes zusammen lesen sollten?«, fragte Papa vorsichtig.
»Wie? Was anderes? Wie meinst du das?«, beschwerte sich Emma. »Nix da. Kommt gar nicht in die Tüte. Ich will den Froschkönig.«
Also stand Papa auf, holte das Märchenbuch und las das wohl bekannte Märchen daraus vor.

Am nächsten Abend ging das Ganze wieder von vorn los. Emma lag im Bett und Papa stellte wieder die übliche Frage. Wieder entschied sich Emma für den Froschkönig.
»Ich hab da heute mal eine andere Idee.«, schlug Papa unerwartet vor. »Was hältst du davon, wenn wir uns heute mal ein ganz neues Märchen basteln?«
»Basteln?«, war Emma skeptisch. »Wie sollen wir denn ein Märchen basteln? Mit Papier, Schere und Kleber?«
Sie lachte. Aber Papa nickte tatsächlich. Er holte einen kleinen Werkzeugkasten hinter dem Rücken hervor. Er öffnete ihn und packte ein paar Sachen aus. Es waren ein Blatt Papier und Klebstoff. Der restliche Werkzeugkasten war mit kleinen Zetteln gefüllt.
»Auf den Zetteln stehen ganz viele Stichwörter, die man immer wieder in Märchen findet. Ich hab den ganzen Nachmittag daran gearbeitet.«
Er stellte den Kasten zwischen sich und seiner Tochter.
»Du ziehst jetzt daraus ein paar Zettel. Die kleben wir auf das große Blatt. Wenn wir fertig sind überlegen wir uns gemeinsam dazu ein tolles Märchen.«
Emma wollte schon nach dem ersten Zettel greifen, doch dann zögerte sie.
»Du hältst das wirklich für eine gute Idee? Das soll mir mehr Spaß machen als der Froschkönig?«
Papa nickte. »Auf jeden Fall. Stell dir das doch mal vor. Ein eigenes Märchen. Jeden Tag ein anderes. Und wir denken sie uns selbst aus. Kann es etwas Cooleres geben?«
Emma dachte kurz nach. Dann war sie einverstanden. Sie zog ein paar Zettel und legte sie verdeckt auf ihre Bettdecke.
Nun war Papa an der Reihe. Er nahm den ersten Zettel, drehte ihn um und las ihn laut vor: ‚Eitelkeit‘. Dann klebte er ihn auf. Der zweite Begriff lautete ‚Prinzessin‘.
»Das wird bestimmt ganz spannend.«, war sich Papa sicher. »Eitle Prinzessinnen gibt es in den Märchen einige. Da wird und garantiert etwas Tolles einfallen.«
Zettel Nummer drei trug die Aufschrift ‚Brunnen‘.
Papa sah verwirrt auf seinen Baukasten. Erste Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Nur zögerlich drehte er den vierten Zettel um. Der Begriff lautete ‚goldene Kugel‘.
»Moment mal. Das kann doch gar nicht sein. Das ist aber ein verrückter Zufall.«
Er nahm den letzten Zettel in die Hand. Während er ihn zitternd umdrehte, kniff er fest die Augen zu. Als er sie wieder öffnete, hatte er das Gefühl, dass ihm leicht übel wurde.
Da stand tatsächlich ‚Frosch‘.
Emma jubelte. »Papa, dein Baukasten ist echt toll. Ich hab alles gezogen, was zum Froschkönig passt. Liest du ihn mir jetzt vor?«
Papa schien seine Tochter gar nicht gehört zu haben. Er griff wahllos in die Zettel, zog einen nach dem anderen heraus. Immer wieder standen dort die gleichen Begriff. Immer wieder wieder hielt er Frosch, Prinzessin, goldene Kugel, Eitelkeit und Brunnen in der Hand.
Emma wurde rot im Gesicht. Doch dann musste sie lachen.
»Mama hat gesagt, wir tauschen die Zettel einfach aus, wenn du mal zur Toilette bist, damit ich auch heute den Froschkönig bekomme. Ist das nicht toll?«
Papa nickte und seufzte dabei laut. »Ja, ganz tolle Idee.«
Dann stand er auf, holte das dicke Märchenbuch aus dem Regal und las ein weiteres Mal den Froschkönig vor.

(c) 2018, Marco Wittler

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