670. Schnee

Schnee

Der Kalender zeigte den 24. Dezember – Heiligabend. Während die einen am Vormittag noch arbeiten gingen, unternahmen die anderen die letzten Weihnachtseinkäufe.
Der Ehemann suchte noch ein Parfum für seine Frau, der Familienvater einen Braten für den Abend, die Omas Süßkram für ihre Enkel. Sie alle hatten etwas gemeinsam. Weihnachten war völlig überraschend gekommen. Deswegen konnten sie nicht rechtzeitig genug einkaufen.
In all dieser Hektik hatte kaum jemand die Zeit, sich mal etwas Ruhe zu gönnen, den Tag zu genießen oder auch einfach mal nur den Wolken am Himmel zuzuschauen, wie sie von der einen zur anderen Seite zogen.
Der Einzige, der in seinem Kinderzimmer am Fenster saß und nach draußen sah, war Max.
Max saß schon den ganzen Morgen dort, hatte seine Hände auf die Fensterbank gelegt und darauf seinen Kopf gebettet. Sein Blick wanderte von Wolke zu Wolke, immer mit der großen Hoffnung, dass ein kleines Wunder geschehen würde.
‚Bewölkt – 13° Grad Celsius‘ zeigte der aktuelle Wetterbericht unverändert an. Keine Sonne, kein Regen und – was besonders schlimm war – kein Schnee. Nicht eine einzige Flocke hatte der Wettermann im Fernsehen angekündigt. Und das zu Weihnachten.
Ein Weihnachten ohne Schnee, war eben kein richtiges Weihnachten. In jedem Film, der zu dieser Jahreszeit im Fernsehen lief, war immer alles weiß und kalt.
Deswegen saß Max nun schon so lange am Fenster und hoffte trotzdem noch auf Schnee. Vielleicht, aber nur ganz vielleicht, würden die Wolken gnädig sein und ihm den Gefallen tun, ein paar Schneeflocken fallen zu lassen. Außerdem brauchte der Weihnachtsmann irgendwas, worauf er mit seinem Schlitten landen konnte. Und das war bei einem Schlitten nun mal Schnee.
Die Zeit verging. Minute um Minute verstrich. Stunde um Stunde drehten sich die Zeiger auf der Wanduhr. Jede Sekunde ließ ein leises Ticken hören. Aber draußen geschah nichts. Der Himmel blieb weiter grau, der Boden unter ihm trocken.
Nach und nach kamen auch die Arbeiter und Einkäufer aus der Stadt zurück. Die Straßenränder füllten sich mit geparkten Autos.
»Ich glaube, das wird dieses Jahr nichts mehr.«, war Max enttäuscht und gab es auf, auf ein unmögliches Wunder zu hoffen. Er stand auf und ging in die Küche, wo bereits der Rest der Familie mit dem Mittagessen wartete.
»Was ist denn mit dir los?«, fragte seine große Schwester Emma. »Du schaust aus, als wäre dir eine Laus über die Leber gelaufen.«
Max seufzte laut, während er sich setzte und mit der Gabel lustlos in seinem Essen stocherte.
»Ich wäre froh, wenn es das wäre. Damit könnte ich leben. Aber es ist viel schlimmer. Dieses Jahr gibt es zu Weihnachten keinen Schnee. Das macht mich irgendwie traurig.«
Emma nahm ihren Bruder in den Arm und drückte ihn.
»Ich verstehe, was du meinst. Mir geht es auch so.«
»Weißt du, ich will ja gar nicht nach draußen. Ich will nicht mit dem Schlitten fahren oder Schneeballschlachten gewinnen. Dafür ist an Weihnachten eh keine Zeit. Ich will einfach nur heute Abend zum Fenster rüber schauen und weiße Straßen, Häuser, Hügel und Wälder sehen.«
Da konnten dann selbst Mama und Papa nicht mehr helfen. Sie lasen ihren Kindern gern alle Wünsche von den Augen ab und taten für sie, was sie nur konnten. Aber das Wetter konnten sie nicht beeinflussen.

Nach dem Essen ging Max ins Bad und putzte sich gründlich seine Zähne. Gelangweilt sah er dabei nicht nur in den Spiegel, sondern ließ seinen Blick auch hin und her, hoch und runter wandern.
Er entdeckte Papas Rasierschrank. Hinter der Glasscheibe standen ein Becher, darin ein Pinsel und ein Rasierer, daneben die Sprühflasche mit dem Rasierschaum.
»Hm.«, machte Max und dachte nach.
Er nahm die Dose aus dem Schrank, schüttelte sie kräftig und sprühte ein wenig des Inhalts auf seine Hand.
»Fast wie Schnee.«, murmelte er zu sich. »Ich glaube, ich habe da eine Idee.«

Ein paar Minuten später hörte Mama ihren Sohn im Kinderzimmer jubeln. Neugierig sah sie nach dem Rechten und entdeckte Max an seinem Fenster, dass mit Rasierschaum besprüht worden war. Der Junge hatte Berge und Häuser daraus geformt.
»Was wird denn das?«, fragte Mama mit einem Lachen in der Stimme.
»Wenn schon kein Schnee aus den Wolken kommt, dann wenigstens aus der Dose. Schaut doch schon fast nach Weihnachten aus, findest du nicht?«
Mama legte den Kopf schief. »Ja, irgendwie schon. Tolle Idee. Aber das hält nicht lange. Der Schaum löst nämlich nach einer Weile wieder auf.«
Und diese Weile dauerte viel kürzer, als Max gedacht hatte, denn in diesem Moment zerliefen bereits die Hügel und Häuser und tropften auf die Fensterbank.
»Oh. Nein. Nicht. Bitte. Uff. Und dabei war es so schön gewesen.«
Mama legte ihre Hände auf seine Schultern.
»Ist nicht schlimm.«, sagte sie. »Okay, ich muss das nachher wieder weg putzen. Aber das geht schon. Mich wundert es allerdings, warum du Papas Rasierschaum benutzt hast. Du hast doch eine Schachtel mit Fingerfarben in deinem Schrank. Die hast du noch nie benutzt. Ich bin mir sicher, dass da auch ein Becher mit weißer Farbe drin ist.«
Max bekam große Augen. Dann klatschte er sich mit der flachen Hand auf die Stirn.
»Mannomann. Ich bin doch dumm. Da hätte ich auch selbst drauf kommen können.«
Er holte die Farben aus dem Schrank und machte sich sofort ans Werk. Ein Fenster nach dem anderen wurde in eine weiße Winterlandschaft verwandelt, bis es überall so richtig nach Weihnachten aussah. Jetzt konnte das Fest beginnen.

(c) 2018, Marco Wittler

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