701. Rette sich wer kann, der Drache naht!

Rette sich wer kann, der Drache naht!

Drachen kennt man hier nur als lustige, bunte Flieger, die man aus Holzstäben und Papier baut und sie an einer langen Schnur im Wind schweben lässt. Im weit entfernten China soll es aber noch ganz andere Drachen geben.
Sie sind riesig groß, haben eine schuppige Haut, messerscharfe Zähne und Krallen und spucken Tod bringende Flammen aus ihrem Maul.
Was für uns nur Märchen und Geschichten sind, ist auf der anderen Seite der Welt möglicherweise eine echte Bedrohung für Mensch und Tier – wenn man den Erzählungen Glauben schenken mag.
Eine dieser Geschichten, von der ich dir berichten möchte, handelt von einer gefährlichen Begegnung mit einem dieser Feuer speienden Ungetüme.
Es geschah vor langer Zeit, als es in China noch einen Kaiser gab. Das Land war damals schon so groß, dass es nie komplett von den Armeen und Soldaten des Herrschers beschützt werden konnte.
Aus diesem Grund wurde China von einer unglaublich großen und langen Mauer umgeben und geschützt. Angreifer fremder Völker konnten diese nicht überwinden. Beflügelte Drachen schon. Und so suchten sie immer wieder kleine Dörfer heim, legten sie in Schutt und Asche und entführten Kinder, um sie zu fressen.
Diese Legenden erzählten jedenfalls die Eltern ihrem Nachwuchs, wenn er nicht artig war. Gesehen hatte man aber schon seit einer Ewigkeit keine Drachen mehr – vielleicht hatte es sie auch nie gegeben. Wer wusste das schon?
Eines Tages, während die Erwachsenen auf den Reisfeldern arbeiteten und die Kinder in den Straßen eines Dorfes spielten, ertönten plötzlich Alarmsignale von den nahen Hügeln und Bergen. Kurze Zeit später tauchten auch die ersten Boten mit einer schrecklichen Nachricht auf.
»Versteckt euch! Bringt euch in Sicherheit! Ein Drache ist nähert sich dem Dorf. Er ist auf der Suche nach Nahrung.«
Sofort brach Panik aus. Die Arbeiter verließen die Felder, die Kinder suchten Schutz in den umliegenden Häusern. Jeder versuchte, irgendwo einen sicheren Platz zu finden, um nicht als Futter zu enden.
Hier und da hörten man ängstliche Schreie und wimmernde Menschen.
»Hilfe!«, rief da ein kleines Mädchen auf dem Dorfplatz. Bitte helft mir! Ich komme allein nicht weg.«
Das Mädchen, das von Geburt an nicht laufen konnte, kroch in seiner Angst über den staubigen Boden, war dabei aber viel zu langsam, um auch nur in die Nähe eines Verstecks zu kommen. Während alle anderen Bewohner des kleines Ortes an ihr vorbei rannten, sah sie sich schon als erstes Opfer des Drachen.
»Bitte helft mir doch! Lasst mich hier nicht zurück!«
Es beachtete sie niemand.
Plötzlich war ein lautes Brüllen zu hören, während alle anderen Geräusche in der Umgebung erstarben. Sogar die Grillen hatten aufgehört zu zirpen.
Hinter einem der Hügel tauchte ein riesiges Wesen auf, dass unaufhörlich mit seinen Flügeln schlug.
»Da ist er! Da ist der Drache!«, flüsterte das Mädchen ängstlich und schloss die Augen. Es wollte nicht mit ansehen, wie das Monster auf sie zukam und sie fraß.
»Lass es bitte schnell gehen.«
Der Drache kam näher und näher. Er spähte durch die Straßen und entdeckte das kleine Mädchen, dass da verzweifelt im Staub saß und nicht vom Fleck kam. Sofort hielt er darauf zu und landete auf dem Dorfplatz.
Weiter geschah nichts.
Das Mädchen öffnete langsam wieder die Augen und sah dem Drachen direkt ins Gesicht.
»Was ist mit dir?«, fragte der Drache neugierig.
»Ich kann nicht laufen und es hat mir niemand geholfen, mich zu verstecken.«
»WAS?«, dröhnte es aus dem Maul des Drachen. »Wie könnt ihr es wagen, ein hilfloses Kind einfach hier zurückzulassen?«, rief er laut.
»Was, wenn plötzlich eine Gefahr auftaucht und sie ein Versteck braucht?«
Vorsichtig nahm der Drache das Kind in seine Klaue und setzte es vor einem der Häuser wieder ab.
»Schämt euch!«, machte er noch einmal den Dorfbewohnern ein schlechtes Gewissen. »Ich helfe immer kleinen, wehrlosen Geschöpfen. Nehmt euch daran mal ein Beispiel.«
Dann erhob er sich wieder in die Lüfte und winkte zum Abschied dem kleinen Mädchen.
»Und jetzt suche ich mir einen großen Obstbaum, denn ich habe riesigen Hunger.«
Der Drache schwang mit den Flügeln und flog über die nächsten Berge davon.

(c) 2019, Marco Wittler

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