716. Das Tagebuch

Das Tagebuch

Hannah kam nach der Schule nach Hause, warf ihren Rucksack in eine Ecke des Flurs und setzte sich verärgert an den Küchentisch.
»Was ist denn mit dir los?«, wollte Mama wissen. »Ist in der Schule etwas passiert?«
Hannah schüttelte den Kopf. Doch dann seufzte sie laut.
»Emma ist eine blöde Kuh.«
»Red doch nicht so böse.«, wurde sie von Mama ermahnt. »Egal, wie schlimm etwas ist, so redet man nicht über andere.«
Hannah nickte. »Tut mir leid. Aber Emma war heute richtig gemein zu mir. Sie hat mir mein Tagebuch aus der Schultasche geklaut und der ganzen Klasse daraus vorgelesen.Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie peinlich das für mich war.«
Mama füllte zwei große Tassen mit Kakao, stellte eine Schale mit Keksen dazu und setzte sich ebenfalls an den Tisch.
»Du wirst es vielleicht nicht glauben wollen, aber ich kann sehr gut nachvollziehen, wie du dich fühlst.«
Hannah sah tatsächlich ungläubig auf.
»Mir ist in der Schule etwas ganz Ähnliches passiert. Bei mir war es allerdings nicht irgendein fieses Mädchen, das mich nicht leiden konnte, sondern meine beste Freundin.«
Sie trank einen großen Schluck aus ihrer Tasse, bevor sie weiter sprach.
»Ich hatte ihr anvertraut, dass ich unheimlich auf einen Jungen aus unserer Klasse stand. Ich war damals richtig heftig verliebt und hatte unzählige Schmetterlinge im Bauch. Ich konnte an nichts anderes mehr, als an diesen Jungen denken.
Das Problem dabei war nur, dass meine Freundin sich in den Selben Jungen verliebt hatte und ihn mir unbedingt wegschnappen wollte.
Sie hat sich dann auch mein Tagebuch stibitzt und allen vorgelesen, wie verliebt ich war. Ich hatte meine Gefühle so lange verheimlicht und von da an wussten es alle. Ich wäre am Liebsten im Erdboden versunken. Alle haben mich ausgelacht.«
Hannah sah Mama mit großen Augen an. »Das ist ja noch viel schlimmer als bei mir. Wie ging es denn dann weiter?«
Mama grinste, als sie weiter an Damals erinnerte.
»Ich habe ihr die Freundschaft gekündigt. Wir haben von da an nie wieder miteinander gesprochen oder uns angesehen.«
»Und was wurde aus dem Jungen? Hat ihn eine von euch als Freund bekommen?«
»Ja!«, hörte Hannah plötzlich Papas Stimme hinter sich. »Deine Mama hat ihn bekommen, geheiratet und nie wieder gehen lassen. Und heute ist er dein Papa.«
»Wow!«, machte Hannah nur und war begeistert.
»Aber wie hast du das Problem mit deinem Tagebuch gelöst? Hast du es zugeschlossen oder von da an vor allen anderen versteckt?«
Mama schüttelte den Kopf.
»Ich habe mir etwas viel Besseres ausgedacht. Ich habe mir eine einfache, aber sehr geniale Geheimschrift ausgedacht. Von da an habe ich alles nur noch rückwärts geschrieben. Das haben andere zwar sehr schnell bemerkt, aber sie waren immer zu faul, anders herum zu lesen. Von da an waren meine Gedanken für alle anderen geheim.«
Hannah war begeistert und nahm sich vor, nun auch alles rückwärts zu schreiben.

(c) 2019, Marco Wittler

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