Die Sauerlandpiraten stechen in See
Kapitän Holzwurm klopfte sich gegen sein künstliches Bein, dass er sich vor geraumer Zeit aus einem alten Mastbaum geschnitzt hatte und zog sich seine Mütze so tief über die Stirn, dass sie seine Wimpern berührte. Er öffnete die Tür seiner Kabine und spürte augenblicklich die dicken Regentropfen, die ihm der starke Wind ins Gesicht trieb. Er trat hinaus auf die Brücke, erreichte mit drei Schritten das Steuerrad und blickte auf seine Mannschaft hinunter.
»Piratinnen und Piraten, meine lieben Freunde.« er hob den Arm und zeigte zum Himmel hinauf. »Heute ist die perfekte Nacht für einen Raubzug.«
Ein heller Blitz fuhr herab, traf die Meeresoberfläche und verdampfte einen Teil des Wassers zu einer kleinen Wolke, die sogleich hinfort geweht wurde. Der laute Donner folgte nur einen Augenaufschlag später.
»Die Bewohner der Insel liegen in ihren Betten oder haben sich zumindest vor dem Unwetter in Sicherheit gebracht. Die Straßen sind leergefegt. Niemand wird uns bemerken. Niemand wird uns sehen. Wir plündern die Bank, das Rathaus und ein paar Häuser, in denen schon kein Licht mehr brennt. Bevor auch nur irgendwer etwas ahnt, sind wir längst verschwunden und wieder in See gestochen.«
Die Piraten lachten laut, jubelten und hätten nur zu gern ihre Hüte in die Luft geworfen, doch dann hätten sie sie nie wiedergesehen.
»Und dir, mein kleiner Freund, besorge ich einen schicken neuen Käfig mit einer besonders gemütlichen Sitzstange.« Kapitän Holzwurm schenkte seinem blauen Plüschpapagei, der aus seiner Schulter saß, einen fürsorglichen Blick, bevor er sich wieder seiner Mannschaft widmete.
»Macht euch an die Arbeit. Es geht los!«
Das Schiff fuhr in den Hafen und machte an der Kaimauer fest. Die Piraten sprangen an Land und stürmten in die Stadt.
Kapitän Holzwurm, der wegen seiner Behinderung nicht ganz so schnell war, humpelte den anderen hinterher. Er war nur noch wenige Schritte von den ersten Häusern entfernt, als ihn eine kräftige Windbö erwischte und zu Boden warf. Der blaue Papagei auf seiner Schulter löste sich, wurde vom Sturm erfasst und verschwand in der Dunkelheit.
Der Kapitän blickte ihm verzweifelt hinterher. »Nein!«, schrie er, so laut es nur ging, doch seine Stimme wurde vom nächsten Donnern verschluckt.
Der Papagei riss die Augen auf, sah sich panisch um und begann laut zu kreischen. Eben hatte er noch reglos auf der Schulter des Piratenkapitäns gesessen, nun kämpfte er verzweifelt gegen die Stürme eines mächtigen Unwetters.
»Ich muss zurück.« Mit aller Kraft schlug er mit den Flügeln, doch schon bald hatte er das Schiff, den Hafen und die Insel aus den Augen verloren und damit auch die Orientierung. Schon nach wenigen Minuten hatte er die Küste erreicht, wo sein Irrflug aber nicht endete.
Es ging auf, es ging ab. Mal befand er sich mitten in den Wolken, mal knapp über dem Boden. Doch nirgendwo konnte er sich festhalten oder Schutz suchen. Über Stunden trieb ihn das Unwetter immer tiefer aufs Land, bis es ihn mit Wucht gegen ein gelbes Schild schleuderte. Während sein Bewusstsein langsam einer Ohnmacht wich, konnte er noch die ersten Buchstaben lesen. W-I-N-T-E-R. Dann wurde es dunkel.
Nur mit Mühe öffnete der Papagei zuerst das linke, dann das rechte Auge. Mittlerweile war die Nacht vorbei und der Sturm abgeebbt. Am Himmel war die Wolkendecke aufgerissen und hatte den ersten Sonnenstrahlen Platz gemacht, die den Vogel nun blendeten.
»Autsch! Verdammt! Beim Klabautermann. Was war denn das für eine verrückte Nacht?« Er rieb sich mit den Flügeln über den Kopf, auf dem sich eine dicke Beule gebildet hatte. »Aua!« Er ließ die Flügel wieder fallen. Der verzweifelte Flug gegen den Sturm hatte ihm einen mächtigen Muskelkater beschert.
»Ich muss zurück zum Schiff. Kapitän Holzwurm wird mich schon vermissen. Ohne mich kommt er doch gar nicht zurecht.« Trotz aller Schmerzen richtete er sich auf, flatterte los und erschrak, als er sich das erste Mal umsah. Links, rechts, vorn und hinten, egal in welche Richtung er blickte, überall waren grün bewachsene Berge. Das Meer, die Nordseeinsel und das Piratenschiff waren nirgendwo zu sehen. »Bei allen Meeresgöttern, wo bin ich hier gelandet?« Dem Papagei fiel das gelbe Schild ein, gegen das er in der Nacht geknallt war. Dieses war schnell gefunden. Winterberg. Hochsauerlandkreis. »Nein, nein, nein. Das kann nicht sein. Am Meer gibt es keine Berge.« Und doch waren sie überall. Einer von ihnen stach besonders aus diesem Gebirge hervor. »Da oben muss ich rauf. Vielleicht sehe ich aus der Höhe, in welche Richtung ich fliegen muss. Ich kann dann bestimmt unsere Piratenflagge am Masten wehen sehen.«
Der Papagei flog zum Gipfel hinauf und erreichte ein weiteres Schild. Kahler Asten, 841 Meter. »Ich muss mich nur auf den Turm dort oben setzen, dann sehe ich unser Piratenschiff.«
Vom Dach des Astenturms hatte man eine grandiose Aussicht. Da waren Berge, Bäume, ganz viel Grün und … »Da sind sie. Da ist das Piratenschiff.«
Die schwarze Flagge mit dem weißen Schädel und den gekreuzten Gebeinen war eindeutig zu erkennen. Nur eines war seltsam. »Warum sehe ich kein Wasser? Warum weht sie mitten im Grünen? Ich muss der Sache auf den Grund gehen.«
Der Papagei machte sich auf den Weg und erreichte ein … »Ein Papierboot? Ist das ehrlich ein Boot, das aus einer alten Zeitung gefaltet wurde? Was ist das für ein schlechter Scherz.«
»Moment mal!« Aus dem Boot erhob sich ein kleiner, grüner Plüschfrosch und blickte grimmig drein. »Mein Boot ist aus feinstem Büttenpapier gefaltet und außerdem das einzige mit Piraten an Bord, so weit du gucken kannst. Ich bin sein Kapitän und steche noch heute mit meiner Mannschaft in See.«
»Oh, entschuldige bitte.« Der Papagei war beeindruckt. Obwohl diese kleine Faltkunst nicht viel hermachte, verdiente sein Besitzer Respekt. »Dafür wünsche ich dir und euch viel Glück. Allerdings bin ich mir nicht ganz so sicher, ob das funktionieren wird. Euch fehlt eine entscheidende Sache: das Meer.«
Der Frosch verdrehte die Augen. »Kann es sein, dass du nicht von hier kommst? Du scheinst unser Sauerland nämlich nicht zu kennen. Macht aber nichts. Spätestens wenn die Sonne untergegangen ist, geht es los. Wenn du magst, kannst du Teil meiner Mannschaft werden. Wir sind ein bunt gemischter Haufen, der jedem Regenbogen Ehre machen würde.«
Der Papagei lächelte. So schnell Anschluss zu finden, damit hätte er nicht gerechnet. Außerdem hatte er noch keinen Plan, wie er wieder nach Hause kommen sollte. Warum also nicht für eine Weile ein Austauschpirat sein.
»Aye, Kapitän Froschschenkel. Ich bin dabei und werde euch im Ausguck nicht enttäuschen. Meinen Adleraugen entgeht nichts.«
Der Frosch nickte, steckte Zeige- und Ringfinger in den Mund und pfiff darauf so laut, dass man es bestimmt noch auf dem nächsten Berggipfel hätte hören können.
Zwischen hohen Gräsern und Kräutern erhoben sich mehrere Köpfe. Sie alle gehörten weiteren Plüschtieren. Eine rote Faultierdame, eine kleine Elchkuh und ein Teddy der mit seinen gelben, grünen, weißen und blauen Farben selbst schon ein halber Regenbogen war. Zusätzlich zierte eine schwarze Augenklappe sein Gesicht und ein blauer Piratenhut saß auf seinem Kopf. Er wirkte beinahe wie ein in der Wäsche eingelaufener Kapitän Holzwurm.
»Ihr seid eine beeindruckende Mannschaft. So einen wilden Haufen unterschiedlichster Plüschis habe ich noch nie gesehen. Aus meiner Erfahrung heraus kann ich sagen, dass das ein riesiger Vorteil ist, denn jeder von euch, bringt eigene Ideen mit. Damit seid ihr anderen Piraten weit voraus.«
Gemeinsam zogen sie sich in den Schatten des Astenturms zurück, den der Frosch als seinen Leuchtturm bezeichnete, wo er seiner Mannschaft wildes Seemannsgarn auftischte, das ihm sein Großvater schon erzählt hatte.
»Mein Opa, müsst ihr wissen, war einer der größten Piraten, die die Welt je gesehen hat. Er war ein Freibeuter, der die Nordsee von Ost nach West in Angst und Schrecken versetzt hat. Tauchte sein Schiff am Horizont auf, ergriffen alle anderen sofort die Flucht.«
»Und warum fährt dein Boot nicht über die See?«, wollte der Papagei nun endlich erfahren. »Warum befindet es sich auf einem grünen Berg mitten im Gebirge?«
Der Frosch wurde rot im Gesicht, drückte die Spitzen seiner Zeigefinger gegeneinander und blickte auf seine Füßen hinab. »Ich bin wasserscheu.«, murmelte er so leise, dass man ihn kaum verstehen konnte. »Ja, ich gebe es zu.«, sagte er nun mit festerer Stimme. Er hob den Kopf. »Ich bin als kleine Kaulquappe auf einer Alge ausgerutscht, in eine Pfütze gefallen und fast dabei ertrunken. Ich habe Angst vor dem Wasser. Deswegen ist unser Meer nicht blau, es ist grün.«
Der Papagei hielt sich kurz einen Flügel vor den Schnabel, bevor er weitersprach. »Das tut mir leid. Das wusste ich nicht. Ich wollte dich auf keinen Fall beschämen.« Er zeigte auf seine Brust. »Du bist damit aber nicht allein. Seit mich das Unwetter von letzter Nacht meiner Mannschaft entrissen hat, macht mir schon das leiseste Lüftchen Angst. Ich will nicht noch weiter aufs Land geweht werden. Ich weiß doch jetzt schon nicht mehr, in welche Richtung es zum Meer geht.«
Der Frosch reichte ihm die Hand. Der Papagei schlug ein. »Das Faultier Heide musste seine Heimat verlassen, weil es den anderen nicht faul genug war. Sie wollten keine begeisterte Marathonläuferin im Dschungel bei sich haben. Als zu klein geratener Elch lebt man im Norden ständig in der Angst, von den anderen platt getreten zu werden. Und unser Teddy hat sich im Kinderzimmer seines Besitzers einfach nicht wohl gefühlt. Die anderen Plüschis waren ihm nicht piratig genug. Er wurde deswegen von ihnen links liegengelassen. Wir haben alle unsere Vergangenheit, die uns zu dem gemacht hat, was wir heute sind: Die gefürchteten Sauerlandpiraten.«
Es wurde dunkel. Am Himmel tauchten die ersten Sterne auf und der Vollmond schob sich über den Horizont. »Es ist so weit.« Der Frosch erhob sich. Gemeinsam bestieg die Mannschaft das Papierboot. Der Papagei setzte sich auf die Spitze in der Mitte und hielt Ausschau, obwohl er nicht einmal wusste, wonach. »Wir werden eh nicht in See stechen.«, murmelte er leise zu sich selbst. »Uns fehlt immer noch das Wasser.«
Ein Wind zog auf, nicht so stark wie in der letzten Nacht. Er war nicht gefährlich, dennoch kräftig genug, um das Papierboot durch die nun wogenden Gräser und Kräuter des Berges vor sich her zu schieben.
»Sie es dir an, mein blauer Freund.«, rief der Frosch begeistert. »Schau dir das grüne Meer des Sauerlands an und staune.«
Die Piraten holten Netze aus einer Kiste, warfen sie aus und sammelten leckere blaue Beeren ein, die dem Papagei schon am Tage aufgefallen waren. »Sind das etwa Blaubeeren? Ich habe schon einmal davon gehört. Sie sollen köstlich schmecken. Leider habe ich sie noch nie zu Gesicht bekommen.«
Heide, das Faultier, stockte in ihrer Bewegung. Nur langsam, wie man es bei einem normalen Faultier erwartet hätte, drehte sie ihren Kopf zum Papagei. »Nur weil du blaue Federn hast, musst du sie nicht Blaubeeren nennen. Das sind Heidelbeeren.«
»Und du reg dich nicht wieder auf.«, drängte sich der Frosch dazwischen. »Du musst Heide entschuldigen. Heide und Heidelbeeren, du verstehst? Dabei stimmen beide Namen.«
Heide schob den Frosch zur Seite. »Aber nur Heidelbeeren ist der echte Name. Aber weil ich dich nett finde, mein gefiederter Freund, darfst du auch Blaubeeren zu ihnen sagen.«
Die Piraten setzten ihr Fahrt fort und füllten den Bauch des Papierbootes bis zum Rand mit leckeren Beeren. Dabei ließen sie es sich nicht nehmen, sich gegenseitig immer wieder wegen des Namens der Früchte zu necken. So ging es die ganze Nacht, bis irgendwann ein erster Sonnenstrahl hinter dem Horizont erschien.
»Unser Werk ist getan.«, sagte der Frosch zufrieden. »Wir haben wirklich viel geschafft.«
»Und was machen wir nun mit unserer Beute?« Verstecken wir uns damit im Turm, schlagen uns die Bäuche voll und geben anderen Beerensuchern nichts ab?«
Der Frosch lachte und schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Unseren Schatz werden wir nun verschicken.«
Die Piraten stiegen aus. Gemeinsam schulterten sie das bis zum Rand gefüllte Boot und brachten es zu einem kleinen Kiesplatz, an dessen Rand Wasser zwischen mehreren Steinen aus dem Boden kam.
»Das ist die Quelle der Lenne. Hier oben auf dem Berg mag sie wie ein unbedeutender Bach aussehen. Aber schon bald vereinigt sie sich mit anderen und wächst zu einem Fluss heran, der ganze Stadtteile unter Wasser setzen kann.«
Sie setzten das Boot in den Bach und sahen zu, wie es langsam den Berg hinab getrieben wurde und zwischen ein paar Bäumen verschwand.
»Die Lenne wird in die Ruhr und diese in den Rhein fließen. Dieser zerteilt sich schließlich in mehrere Flüsse, die alle ein Ziel haben: Die Nordsee. Dort kümmert sich noch heute mein Opa in seinem Plüschtierheim um herrenlose Plüschis, die verloren gingen oder die niemand mehr haben wollte. Sie bekommen unsere Beeren.«
Der Papagei riss die Augen auf. »Mein Zuhause.« Ich muss nur dem Papierboot folgen und komme so zurück zu meiner Mannschaft.« Als er die traurigen Blicke der Sauerlandpiraten sah, dachte er nach. Nur zu gern wäre zu Kapitän Holzwurm zurückgekehrt. Doch was dann? Er hätte wieder als lebloser Plüschpapagei auf der Schulter Piraten gesessen. Doch hier auf dem Kahlen Asten hatte er eine Mannschaft gefunden, die so war wie er. Hier konnte er wilde Abenteuer erleben und mit der Ernte der Blaubeeren – er musste leise in sich hinein kichern – etwas Gutes tun.
»Ich glaube, ich bin hier bestens aufgehoben. Es ist zwar nicht blau, dafür aber grün. Immerhin ist es ein Meer. Mehr braucht ein Pirat nicht für seine Kaperfahrten. Also lasst uns gemeinsam in See stechen und Blaubeeren kapern.«
Die Piraten jubelten laut auf, bildeten einen bunten Kreis um das neue Mannschaftsmitglied und feierten gemeinsam mit jeder Menge Seemannsgarn bis zum Sonnenuntergang.
(c) 2025, Marco Wittler
Antworten