Der Geist der Weihnacht
Am frühen Morgen des Weihnachtstages saß Santa Claus in seinem großen, gemütlichen Sessel und blickte durch das Fenster hinter sich auf das emsige Treiben in der Werkstatt hinab. Mit großer Begeisterung und Hingabe verpackten die Wichtel die letzten Geschenke und verstauten sie im Schlitten.
Santa nahm einen Schluck aus seiner Tasse und seufzte leise, bevor er den Kopf senkte und versuchte, im schwarzen Kaffee etwas zu sehen.
Es klopfte. Im Türrahmen der ohnehin schon offenen Tür stand der oberste Wichtel und räusperte sich. »Hallo Boss, ist alles in Ordnung? Die schaust so niedergeschlagen aus.«
»Es ist nichts.« Santa Claus seufzte ein weiteres Mal, sah beim sprechen nicht einmal auf. »Nein, es ist wirklich nichts, aber gerade deswegen ist es eigentlich sogar sehr viel, das mir auf der Seele lastet. Zu viel.«
Der Wichtel kam näher, setzte sich auf den Schreibtisch. »Magst du es mir erzählen? Du weißt, dass ich immer da bin, wenn du ein offenes Ohr brauchst.«
»Ja … Nein … Ach, ich weiß es doch auch nicht.« Er stellte die Kaffeetasse etwas fester ab, als er es beabsichtigt hatte. Ein wenig der heißen Flüssigkeit schwappte über den Rand und floss über die Blätter, die dort lagen. »Nein, nein, nein. Das nicht auch noch.«
»Ist schon gut, Boss. Das sind nur Kopien. Die Originale liegen in der Werkstatt.«
»Ich habe Weihnachten verloren.«, sagte Santa Claus und wischte sich die ersten Tränen aus den Augen.
»Wie meinst du das? Du hast Weihnachten verloren? Das geht nicht. Es ist ein Fest. Das kann man nicht einfach so verlieren. Die Menschen feiern es auf der ganzen Welt.«
»Aber es ist einfach so. Ich habe Weihnachten verloren. Ich fühle es nicht mehr. Es ist nicht mehr in meinem Herzen. Kannst du dir etwas Schlimmeres vorstellen, wenn man Santa Claus heißt?«
Der Wichtel schluckte schwer. »Ich kann es ein Stück erahnen. Immerhin leben wir alle für diese eine Nacht im Jahr und stecken unser gesamtes Herzblut hinein. Aber niemand steht so sehr für Weihnachten wie du.« Er stand auf, kletterte auf die Sessellehne und legte Santa Claus seine Arme auf die Schultern. »Ich würde dir gern helfen, dir einen Rat geben, aber ich weiß nicht wie. Ich kann nur als Freund für dich da sein und dich trösten.«
»Und das bedeutet mir wirklich sehr viel.« Santa holte tief Luft und atmete schwer aus. »Vielleicht ist es an der Zeit, die Stiefel in die Ecke zu stellen und den Mantel an den Nagel zu hängen. Vielleicht sollte ich meinen Platz für jemand anderen räumen, der Weihnachten mehr fühlt als ich.«
»Aber das geht nicht! Du bist Santa Claus. Es könnte dich niemals jemand ersetzen.«
»Aber wenn mir der Geist der Weihnacht verloren gegangen ist? Wie soll ich den Kindern Freude schenken, wenn ich selbst keine mehr habe?« Er erschrak vor sich selbst. So laut, so unbeherrscht war er noch nie gewesen. Er hatte für einen kleinen Augenblick die Kontrolle verloren. »Es tut mir leid. Das wollte ich nicht.«
Der Wichtel nickte und drückte Santa noch ein wenig fester. »Auch dafür bin ich da. Wir sind schließlich Freunde.« Er überlegte kurz, bevor er sich löste. Er griff durch den Kragen unter sein Hemd und förderte eine Kette hervor, an der ein alter, rostiger Schlüssel hing. Er nahm ihn ab, drückte ihn Santa in die Hand. »Dieser Schlüssel führt dich in die unterirdische Wichtelbibliothek. Dort bewahren wir das gesammelte Wissen über das Weihnachtsfest auf. Jedes kleine Ereignis, jede noch so unwichtige Information wurde in den Büchern von meinen Vorfahren festgehalten. Geh dort hinunter, nimm dir Zeit in der Stille und lies ein paar Seiten. Vielleicht findest du auf einer ein Geist der Weihnacht wieder.«
Santa Claus wollte zuerst ablehnen. Natürlich kannte er die Bibliothek. Er war mehr als einmal am Eingang vorbei gegangen. Betreten hatte er sie allerdings noch nie. Schließlich nickte er. »Einen Versuch ist es wert.«
Kurz darauf stand er vor den großen, schweren Eichentüren, die von rostigen Eisenbeschlägen in der Wand gehalten wurden. Mit zittrigen Fingern steckte Santa den Schlüssel ins Schloss und drehte. Nur mühsam ließ er sich bewegen. Es knarrte, knirschte, im Innern rieselte Jahrzehnte alter Rost herunter. Es machte klick, dann klack. Das Schloss war auf. Er drückte die Türen auf, betrat den riesigen Raum dahinter und fand sich zwischen meterhohen Regalen wieder, in denen eine kaum überschaubare Anzahl Bücher stand.
»Das hab ich befürchtet. Wo soll ich jetzt nur anfangen? Welches ist das richtige Buch? Worin steht etwas über den Geist der Weihnacht? Ich habe nicht ewig Zeit. In ein paar Stunden muss ich aufbrechen, sonst fällt Weihnachten ins Wasser.«
Santa Claus stürmte los, las hier und da einen Buchrücken, zog einige Nachschlagewerke heraus und blickte auf die Einbände. Nirgendwo war etwas über den Geist der Weihnacht zu finden.
Irgendwann fiel sein Blick auf ein Buch, das aufgeschlagen auf einem Pult lag. Es musste schon sehr lange hier liegen, denn eine dicke Staubschicht verhinderte, dass man etwas in ihm lesen konnte.
Santa holte Luft und blies den Staub weg, nur um in einer dichten Wolke zu stehen, die ihn husten ließ. Hastig blickte er auf die Seiten. Wieder nichts. Kein Geist der Weihnacht.
»Ich habe es doch gewusst. Ich verschwende hier nur meine Zeit.« Er drehte sich um, stürmte auf die Türen zu und verließ die Bibliothek. »Ich bringe jetzt meine Aufgabe zu Ende, verteile die Geschenke und mache danach Schluss. Ich kann und will das alles nicht mehr.« Mit einem lauten Rumms schlug er die Türen hinter sich zu. Was blieb, war die Staubwolke, die noch immer über dem Buch hing.
»Steht es wirklich schon so schlimm um dich?«, raunte eine Stimme wie ein leises Echo durch die Regalreihen. »Wie konnte das nur geschehen, dass du mich verlierst?«
Die Staubwolke verging, wurde in alle Richtungen hinfort geweht, als hätte jemand ein Fenster geöffnet. Sie verschwand durch kleinste Ritzen und Löcher in den Wänden, bis nichts mehr von ihr zu sehen war.
Santa Claus stürmte durch die langen Gänge, vorbei an Türen, mehrere Treppen hinauf, bis er vor seinem Büro angekommen war. Dort wartete sein Wichtel schon ganz ungeduldig.
»Hast du den Geist der Weihnacht gefunden?«, fragte dieser besorgt.
»Wir können den Job wie gewohnt erledigen.«, wich Santa ihm aus und verließ das Gebäude. Als er mit schnellen Schritten zum Schlitten marschierte, kam ihm plötzlich ein Gedanke. »Ich komme mir schon vor, wie der Grinch. Vielleicht bin ich sogar der Grinch. Es würde mich nicht wundern, wenn das die normale Weiterentwicklung eines Weihnachtsmanns wäre. Ich bin wie ein Pokémon und gehe den nächsten Schritt.«
Plötzlich kribbelte es in seinem Gesicht, es zuppelte etwas an seinem Bart. Santa blickte an sich herab. Die weißen Haare färbten sich von Schneeweiß zu einem Giftgrün. »Verdammt und zugenäht! Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu. Ich werde tatsächlich zum Grinch.«
Schnell knöpfte er den Mantel bis zum Hals zu und zog ihn sich bis zur Nase hoch. Wenn ihn jemand fragend anschaute, murmelte er nur, dass es eine besonders kalte Nacht sei und er sich nicht erkälten wollte. »Jetzt ist es wirklich an der Zeit, Weihnachten hinter mir zu lassen. Die Anzeichen sprechen eindeutig dafür.«
Er schwang sich in den Schlitten, nahm die Zügel in die Hand und gab den Rentieren das Kommando, sich in Bewegung zu versetzen. Ohne einen weiteren Gruß an seine fleißigen Wichtel, erhob sich Santa Claus in seinem Gefährt in die Lüfte.
»Schau mal, Boss.« Rudolph zeigte mit einem seiner Vorderhufe zum Boden. »Die Jungs haben sich dieses Jahr für dich etwas ganz Besonderes überlegt.«
Da standen sie. Alle Wichtel hatten sich im Schnee versammelt und in zwei Gruppen aufgeteilt, die einen in Herzform, die anderen bildeten eine Schneeflocke.
»Reine Gefühlsduseligkeit.«, grummelte Santa, spürte aber ein klein wenig Wärme, die durch sein Herz floss.
Der Flug zum ersten Ziel war die ersten Stunden völlig ereignislos. Lediglich Rudolph redete in diesem Jahr mehr als sonst und erinnerte den Weihnachtsmann an unzählige Dinge, die sie gemeinsam erlebt hatten. Manchen waren zum weinen, andere hatten zu Tränen gerührt oder für ein herzhaftes Lachen gesorgt.
»Was erzählst du mir das gerade heute?«, wollte Santa irgendwann genervt wissen. »Konzentriere dich lieber auf deine Aufgabe, sonst kommen wir noch vom Kurs ab.«
»Ich denke halt einfach gern über unsere gemeinsame Zeit nach. Wir haben so viele tolle Dinge erlegt. Was ist, wenn uns mal etwas passiert und wir uns an die vielen Weihnachtsfeste nicht mehr erinnern können? Dann ist es zu spät dafür. Natürlich hoffe ich, dass wir das noch ganz lange gemeinsam machen können.«
»Pah!«, murmelte Santa. »Morgen ist damit endgültig Feierabend.« Wieder kribbelte etwas, dieses mal von den Zehenspitzen bis zu den Fersen. Kurz darauf waren die Stiefel grün geworden.
Sie flogen unermüdlich von einem Land ins nächste und von einer Stadt zur anderen. Wo auch immer sie landeten, in den Fenstern standen flackernde Kerzen, kleine Weihnachtsmänner hingen als Dekoration an den Wänden und neben jedem Weihnachtsbaum stand ein Teller mit Keksen und einem Glas Milch, die Santa jedoch alle verschmähte. Völlig lustlos arbeitete er den Plan ab, lieferte Geschenke aus und freute sich schon, endlich wieder nach Hause zu kommen.
Kurz vor Sonnenaufgang erreichte der Schlitten das letzte Haus. Er landete auf dem Dach. Der Weihnachtsmann stieg aus und kletterte mit einem Paket im Arm durch den Kamin ins Wohnzimmer hinab.
Er wollte gerade das Paket unter den Baum stellen, als ihm etwas auffiel. Hier stimmte etwas nicht. Da war der Baum, ein Teller mit Keksen und das Glas Milch. Auch hingen lange Socken am Kaminsims, alles wie es sein sollte. Und dennoch fehlte etwas ganz entscheidendes. Hier fehlte die Freude, die Hoffnung. Das war so spürbar, wie ein Kieselstein unter einem nackten Fuß. Keine Kerze leuchtete, kein Licht war zu sehen. Der Raum war kalt.
»Was ist das hier?«, fragte Santa laut, obwohl er wusste, dass ihn eigentlich niemand hören würde.
»Das ist Weihnachten.«, antwortete eine Stimme aus dem Nichts. »Das ist das Weihnachten, wenn der Weihnachtsmann nicht mehr bei uns ist.« Staub erhob sich aus dem Kamin, formte sich zu einer Wolke, die vor Santa Claus in der Luft hängen blieb. »Ohne dich verlieren die Menschen die Hoffnung und den Glauben an das Weihnachtsfest. Die Welt wird ein wenig kälter, ein wenig düsterer.«
»Wer bist du?«
»Wer ich bin? Du fragst mich wirklich, wer ich bin?« Es klang nicht wie ein Vorwurf, mehr wie eine Mischung aus Verwunderung und Neugier. »Ich bin der, den du verloren glaubtest. Ich bin der Geist der Weihnacht.«
Santa Claus war geschockt. Natürlich kannte er den Geist der Weihnacht, hatte an ihn aber mehr als Gefühl bezeichnet, nicht als einen echten Geist.
»Aber warum bist du nicht mehr bei mir? Warum fühle ich Weihnachten nicht mehr?«
Der Geist führte ihn zum Kamin, entfachte ein Feuer und zeigte auf Bilder, die darin entstanden. »Vielleicht weißt du nur nicht mehr zu schätzen, was Weihnachten bedeutet. Vielleicht ist es die Gewohnheit, vielleicht hast du den Blick für das Schöne verloren.« Wie in einem Fotoalbum blätterten Erinnerungen durch das Feuer. Die Wichtel, die am Nordpol in jedem Jahr ein anderes Bild zum Abschied formten, sorgsam ausgewählte Teller und Gläser, um ihn auf seiner langen Reise zu versorgen, seine Rentiere, die beim Flug um die ganze Welt alles gaben. Und dann sahen sie etwas, das der Weihnachtsmann noch nie zuvor erblickt hatte. Da waren leuchtende Kinderaugen, die sich über das bunte Geschenkpapier und den tollen Inhalt freuten.
»Sie alle lieben dich und was du für sie machst.«, erklärte der Geist. »Ohne dich wird es das nicht mehr geben.«
»Das habe ich nicht gewusst. Das … das … das darf ich nicht zulassen.« Santa Claus wischte sich Tränen aus dem Gesicht. Er straffte seine Figur. »Ich bin Santa Claus. Ich bin der Weihnachtsmann. Ich bin Weihnachten. Und das wird für immer so bleiben.«
Als hätte jemand einen Schalter umgelegt, verschwand das Grün an Stiefeln und Bart. Er blickte an sich herab und grinste. »Ich danke dir, dass du mir den Kopf zurechtgerückt hast, alter Freund. Ich hab das wirklich mal gebraucht. Jetzt weiß ich wieder, warum ich das jedes Jahr mache und was es mir bedeutet. Es bedeutet mir die Welt.«
Die Staubwolke deutete ein Nicken an. »Dann wünsche ich dir einen guten Heimflug und grüße die Wichtel von mir, jeden einzelnen.«
Santa Claus sah der Wolke zu, wie sie verschwand und kletterte zurück aufs Dach.
»Das hat aber lange gedauert.« Rudolph blickte den Weihnachtsmann fragend an. »War was?«
Santa Claus schüttelte den Kopf, schluckte und verneinte. »Nein, es war nichts. Lass uns nach Hause aufbrechen.« Er setzte sich und nahm die Zügel in die Hand. Der Schlitten hob langsam ab. »Rudolph, erzähl mir doch nochmal die Geschichte, als ich vom Dach gerutscht bin und mir die Hose geplatzt ist.«
Kurz darauf hörte man von Nord nach Süd und Ost nach West ein lautes und vergnügtes Ho, Ho, Ho.
(c) 2025, Marco Wittler
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