Willi Borkenflink braucht Hilfe
»Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie froh ich bin, dass wir die kleine Hexe mit der dicken Brille getroffen haben. Allein hätten wir bestimmt nicht den Weg aus dem finsteren Wald gefunden.« Roselotte Brombeergeist marschierte gut gelaunt den Weg voran, während das namenlose Geistermädchen hinter ihr schwebte. »Stell dir nur vor, wir hätten uns erneut in den Büschen verfangen oder würden immer nur im Kreis gehen.«
»Du hast dich in den Büschen verfangen. Ich schwebe einfach durch sie hindurch.«, warf das Geistermädchen ein. »Außerdem bin ich mir noch nicht so wirklich sicher, dass wir den Weg ins nächste Dorf oder die Stadt schaffen. Noch kann ich kein Licht am Ende des Weges erkennen.«
»Du alte Schwarzseherin.«
Das Geistermädchen stemmte die zu Fäusten geballten Hände in die Seiten. »Hast du mich gerade alt genannt? Ich bin erst vor ein paar Tagen geboren worden. Ich kann noch gar nicht alt sein. Und gegen das Schwarzsehen kann ich leider nichts. Solang mein Geisterlicht nicht entfacht wird, fehlt mir die richtige Beleuchtung.«
Sie wollte sich noch weiter beschweren, doch da hob Lotti die Hand und brachte sie zum Schweigen. »Leise! Da vorn ist jemand. Es scheint Probleme zu geben. Wir sollten uns erstmal im Hintergrund bleiben und beobachten.«
Ein paar dutzend Schritte voraus wurde der Weg breiter und mündete in einer kleinen Lichtung, auf der fünf dicke Eichen im Kreis standen. Zwischen ihnen befand sich ein alter Baumstumpf, auf dem ein langbärtiger Wichtel hin und her sprang, schimpfte und motzte, dass es einem Rohrspatz alle Ehre gemacht hätte.
»Wo bist du? Zeig dich endlich. Oder bist du nur ein erbärmlicher Feigling, Willi Borkenflink. Komm aus deinem Versteck, damit ich, Grantel Eisenstiefel, dir einen Tritt in den Hintern verpassen kann.« Eine Antwort bekam er zu seinem Leidwesen nicht.
Plötzlich waren leise Schritte hinter den beiden Geistern zu hören. Jemand näherte sich. »Erschreckt euch bitte nicht. Ich werde euch nichts tun.«
Sie fuhren trotzdem erschrocken herum und sahen sich einem zweiten Wichtel gegenüber. Wenn dieser ein ebenso unangenehmer Zeitgenosse war, würde es bald Probleme geben.
»Mein Name ist Willi Borkenflink. Ich verstecke mich schon seit einer ganzen Weile in den Büschen vor Grantel Eisenstiefel. Wegen ihm habe ich die Stadt verlassen und bin in den Wald gezogen. Vor dem Kerl hat man wohl nirgendwo seine Ruhe. Er sucht nämlich ständig Streit.«
Lotti legte ihre Stirn in Falten, was bei ihrem Bettlaken, aus dem ihr Körper bestand, besonders gut gelang. »Ähm, du weißt schon, dass wir Geister sind? Hast du gar keine Angst vor uns?«
Willi Borkenflink winkte ab. »Ich habe die meiste Zeit meines Lebens in einer großen Stadt verbracht. Glaubt mir, da sieht und erlebt man Wesen und Dinge, dagegen sind zwei Geister nichts Besonderes mehr.« Er lächelte, streckte ihnen seine Hand entgegen, nach denen Lotti und das Geistermädchen erfreut griffen. »Und mit wem habe ich das Vergnügen?«
»Mein Name Lotti, das hier ist …« Tja, wie sollte sie ihre Begleitung nur vorstellen?
»Ich habe noch keinen Namen. Wir sind gerade auf der Suche nach ihm. Doch das ist so unglaublich schwer. Wir wissen nämlich nicht genau, wohin wir gehen sollen.«
»Angenehm. Ich würde euch gern in mein Haus einladen, das sich in diesem Baumstamm dort befindet, aber ihr seht selbst, dass es gerade von einem boshaften Wichtel belagert wird. Ich weiß leider auch nicht, wie wir an ihm vorbei kommen sollen oder vertreiben können. Darüber denke ich schon seit Stunden nach.«
Die Geister blickten sich spitzbübisch an und begannen zu grinsen. »Wir sind Geister. Wenn jemand einem Wichtel Angst einjagen kann, dann wir.« Schon wollten sie Grantel Eisenstiefel entgegen stürmen, da hielt Lotti noch einmal inne. »Das soll aber nicht bedeuten, dass wir böse Geister sind. Normalerweise erschrecken wir niemanden. Das ist uns zutiefst zuwider. Ich bin gern Freund und Helfer aller Wesen und helfe, wo ich nur kann. Ich diesem Fall machen wir aber eine Ausnahme.«
Die Geister hoben die Hände über die Köpfe. Lotti sprintete auf ihren Füßen los, während der Geistermädchen über ihr schwebte.
»Buuuuh!«, riefen sie laut.
Grantel drehte sich um, entdeckte, was sich ihm schnell näherte. Entsetzt riss er seine Augen auf, begann zu schreien und sprang mit einem kräftigen Satz vom Baumstumpf. So schnell ihn seine Füße tragen konnten, verschwand er zwischen dichten Büschen und Bäumen, um sich in Sicherheit zu bringen.
»Ihr seid unglaublich.« Willi Borkenflink war begeistert. Dass man seinen Widersacher so schnell in die Flucht schlagen konnte, hätte er nicht gedacht. »Dann begleitet mich bitte in mein bescheidenes Heim. Ich möchte euch mit ein paar Keksen und einer heißen Schokolade bewirten.«
Seltsamerweise betrat er den Stumpf nicht durch den Vordereingang, sondern nahm die Hintertür.
»Hast du etwas zu verheimlichen?«, fragte Lotti neugierig.
»Durch den Hintereingang ist es sicherer. Die Möbel, die man durch die Fenster sieht, sind groß, die Stube drumherum noch viel größer. Damit täusche ich die wilden Tiere des Waldes. Wer denkt, dass hier ein Riese lebt, wird mir nicht auflauern, um mich zu fressen.«
»Das ist sehr schlau gedacht.«
Gemeinsam setzten sie sich an einen Tisch, tranken heiße Schokolade, aßen leckere Kekse, die sie zuvor in ihren Tassen getränkt hatten und sprachen über die Wünsche, Träume und Ziele der beiden Geister.
»Das ist eine wirklich spannende Geschichte. Ich würde euch gern helfen, das Geisterlicht zu entzünden, euch vielleicht sogar begleiten, um alles über den Ausgang eurer Suche zu erfahren, doch leider habe ich meine Aufgaben hier im Wald zu erfüllen. Zumindest kann ich euch den weiteren Weg beschreiben. Ihr habt nämlich bald geschafft. Der Rand des finsteren Wald ist nur wenige Stunden entfernt. Sobald ihr ihn verlassen habt, trefft ihr auf ein Dorf. Von dort schafft ihr es recht schnell in die große Stadt.«
Das klang sehr vielversprechend. Lotti und das Geistermädchen blieben noch eine Nacht im Baumstumpf, wachten über ihren neuen Freund Willi Borkenflink, bevor sie sich am nächsten Morgen auf den Weg zum Dorf machten.
(c) 2025, Marco Wittler
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