Auf der Jagd nach dem verlorenen Licht – Kapitel 4

Der geheimnisvolle Zaubertrank

Da standen und schwebten sie nun. Roselotte Brombeergeist und das namenlose Geistermädchen hatten die Gemeinschaft der Geister verlassen und sich schon nach wenigen Minuten im großen, finsteren Wald verirrt.
Der Weg war mit jedem Schritt schmaler, die Büsche und Bäume näher gerückt.
»Ich sag das nur sehr ungern, aber ich fürchte, wir kommen hier nicht weiter und nicht zurück.«
Lotti zog verzweifelt an ihrem Laken, dass sich in den Stacheln einer Himbeere verfangen hatte und sich nicht einmal mehr mit gutem Zureden lösen wollte. Ihre schweren Stiefel steckten tief im Schlamm einer Pfütze, die sich darunter durch den Regen der Nacht gebildet hatte. Trotzdem war sie, anders als ihre Begleiterin, weiter zuversichtlich.
»Wir geben jetzt bestimmt nicht auf. Das ist nur ein kleines Hindernis, dass es zu überwinden gilt.« Sie versuchte, sich weiter zu befreien, scheiterte aber mit jedem weiteren Versuch. Irgendwann gab sie auf und setzte sich auf einen alten, vermoderten Baumstumpf.
»Wir können auch einfach hier bleiben und darauf warten, dass die Himbeere eines Tages abstirbt, verwelkt und mich dann freilässt. Wir sind Geister und haben alle Zeit der Welt.«
»Und was soll ich bis dahin machen?« Das Geistermädchen war den Tränen nahe. »Mein Licht leuchtet nicht und einen Namen habe ich auch nicht gefunden. So kann ich unmöglich mitten im Wald jahrelang ausharren.«
Plötzlich kam Bewegung in die Pflanzen. Es schien, als würden sie ihre Wurzeln wie einen im Matsch versunkenen Fuß herausziehen. Stück für Stück wichen sie zurück, gaben einen Weg frei, der gründlich unter ihnen versteckt gelegen hatte und damit auch den Blick auf eine Lichtung, in deren Mitte ein altes, windschiefes Holzhaus stand. Dabei lösten sich auch die Stacheln aus Roselotte Brombeergeist.
»Wir sind nicht allein.«, flüsterte Lotti und zeigte auf eine kleine Frau, die mit einem spitzen Hut hin und her torkelte.
»Sie schaut nicht gesund aus, sonst würde sich nicht so seltsam bewegen. Gehen wie hin und fragen, ob sie Hilfe benötigt?«
Lotti wartete keine Antwort ab und marschierte los. Kaum hatte sie die Lichtung erreicht, sprach sie die Frau an. »Geht es dir nicht gut? Brauchst du vielleicht Hilfe?«
Die Frau zuckte zusammen, drehte sich einmal im Kreis und schien nach der Stimme zu suchen, von der sie gerade angesprochen worden war. Schließlich entdeckte sie die beiden Geister, blickte aber knapp an ihnen vorbei.
»Oh, ähm, nein.« Sie nahm ihren Hut ab, kratzte sich verlegen am Kopf und setzte ihn wieder auf. »Vielleicht aber auch doch.« Sie zeigte in verschiedene Richtungen. »Ich bin die kleine Hexe des finsteren Waldes. Ich lebe hier, züchte seltene Kräuter und braue aus ihnen magische Tränke.« Ihre laute Stimme wurde zu einem Murmeln. »Zumindest glaube ich, dass sie selten sind. Manchmal bin ich mir da aber nicht so sicher.«
»Wie bitte?«
»Ach nichts. Ich habe nur zu mir selbst gesprochen. Vielleicht könnt ihr mir helfen. Ich bin auf der Suche nach zwei ganz bestimmten Kräutern. Ich kann sie nicht finden, weil das Licht der Sonne nur sehr spärlich auf meine Lichtung scheint. Ich kann die Blätter einfach nicht unterscheiden.«
Die zwei Geister blickten zum Himmel hinauf und wunderten sich. Die Sonne stand beinahe senkrecht am Himmel. Mehr Licht hätte sie diesem Ort bestimmt nicht spenden können. Trotzdem bejahten sie.
»Schaut her.« Die Hexe holte ein dickes Buch aus ihrer Umhängetasche, schlug eine Seite auf, die sie mit einem Lesezeichen markiert hatte und tippte auf zwei Zeichnungen. »Diese Beiden müsst ihr finden. Dann kann ich endlich meinen Trank brauen.«
Lotti flitzte auf ihren Füßen los, das Geistermädchen schwebte in die andere Richtung davon. Schnell hatten sie die gesuchten Pflanzen gefunden und ein paar Blätter gepflückt. Sie brachten sie zur Hexe.
»Endlich!« Sie klang sichtlich erleichtert. »Kommt mit ihn mein Häuschen. Wir setzen gemeinsam den Sud auf, machen ein heißes Feuerchen darunter und schauen zu, wie der Zauber entsteht.«
Während der Trank vor sich hin köchelte, saßen sie gemeinsam am Küchentisch. Roselotte Brombeergeist und das Geistermädchen berichteten von ihrer langen Suche, die gerade erst begonnen hatte und fragten, ob die Hexe ihnen den rechten Weg weisen könnte. Zuerst stockte ihr der Atem. »Ihr zwei seid … Geister? Echte, lebendige Geister?«
Lotti musste kichern. »Ich weiß nicht, ob man bei uns Geistern wirklich von lebendig reden kann, aber ja, wir sind echt.«
Die Hexe rieb sich die Augen, starrte die beiden kurz an. Langsam fing sie sich wieder. »Ich glaube, es wird ganz dringend Zeit, dass ich den Zaubertrank wirken lasse.« Sie fuhr mit der Hand in ihre Tasche, suchte hin und her, fand das Gesuchte. »Was ihr jetzt sehen werdet, müsst ihr unbedingt für euch behalten. Niemand darf jemals davon erfahren. Solltet ihr euch doch eines Tages mal verplappern, wird euch der Fluch der Hexenschwesternschaft treffen.«
Die Geister nickten stumm, warteten darauf, das große Geheimnis der Hexe kennenzulernen. Diese holte schließlich eine Brille mit besonders dicken Gläsern hervor. Sie tunkte ihre Sehhilfe in den fertigen Trank, schwenkte sie hin und her und tupfte sie zum Schluss mit einem bunten Tuch ab. »Es gibt nichts Besseres gegen verdreckte Brillengläser, als einen frischen Kräutersud. Ohne eure Hilfe hätte ich das nicht geschafft.« Sie beugte sich verschwörerisch vor und hielt sich eine Hand neben den Mund. »Ich setze meine Brille draußen nie auf, damit mich damit keiner sieht. Das müsst ihr aber für euch behalten.«
Die Geister setzten eine ernste Miene auf und nickten. »Niemals nicht wird jemals ein Wort über unsere Lippen kommen.«
Wenig später machten sich die Geister wieder auf den Weg. Dank der kleinen Hexe mit der dicken Brille wussten sie nun, wie sie den großen, finsteren Wald verlassen und ins nächste Dorf finden konnte, ohne sich ein weiteres Mal in den Büschen zu verfangen.

(c) 2025, Marco Wittler

Unser Score
Klicke, um diesen Beitrag zu bewerten!
[Gesamt: 0 Durchschnitt: 0]

Ersten Kommentar schreiben

Antworten

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.


*