Auf der Suche nach dem verlorenen Licht – Kapitel 06

Lukas macht ordentlich Dampf

Roselotte Brombeergeist und das namenlose Geistermädchen hatten sich mit ihrem neuen Freund, dem Wichtel Willi Borkenflink, die ganze Nacht gruselige Geschichten erzählt und viel gemeinsam gelacht. Doch mit dem dem ersten Sonnenstrahl, der sich mühsam den Weg durch die dicht stehenden Bäume und Büsche gebahnt hatte, waren sie aufgebrochen.
So wie Willi es beschrieben hatte, erreichten sie den Rand des großen, finsteren Waldes nach wenigen Stunden. Es war gerade um die Mittagszeit, als sie das Dorf erreichten.
Die Menschen, die auf den Straßen zwischen den Häusern unterwegs waren, warfen den Geistern misstrauische Blicke zu.
»Glaubst du, sie haben erkannt, dass wir anders sind oder sind sie Fremden gegenüber nicht so offen?«
Lotti fuhr sich mit der Hand über den Schnurrbart, den sie sich aus grünem Moos ins Gesicht geklebt hatte. Mehr an Kostümierung hatten sie in der Eile im Wald nicht auftreiben können.
»Was hat Willi doch gleich gesagt? Bis zur großen Stadt am Meer ist es noch ein weiter Weg. Zu Fuß werden wir das nie schaffen.«
Das namenlose Geistermädchen nickte und hätte dabei fast seinen eigenen Moosbart verloren. »Wir sollen zum Bahnhof gegen und mit dem Zug fahren. Das soll viel schneller gehen.«
Also fragten sie nach dem Weg, mussten ihn am Ende allerdings selbst finden. Niemand wollte zwei verkleideten Geistern eine Antwort geben.
»Zum Glück ist das Dorf so klein. Und die Gleise gut zu finden. In einer Stadt hätten wir uns bestimmt verlaufen.«
Der Bahnhof lag mitten im Zentrum, dem Rathaus direkt gegenüber. Sogar der Zug stand schon bereit.
»Das klappt viel besser, als ich dachte.« Lotti lief so schnell, dass ihre schweren Stiefel laut über den ganzen Bahnsteig zu hören waren. Aus einem Lautsprecher ertönte eine Stimme. »Die Abfahrt des Zuges von Altenburg nach Neuenstadt wird um voraussichtlich zehn Minuten verzögern. Wir bitten um ihr Verständnis.«
»Zehn Minuten? Kein Problem. Wir haben es nicht eilig.« Lotti verlangsamte ihren Gang, während das Geistermädchen enttäuscht seufzte. »Du musst ja auch nicht herausfinden, wie man dein Geisterlicht entzündet. Das würde ich lieber heute als Morgen machen.
Sie erreichten mit den letzten Waggon das Ende des Zuges, liefen langsam nach vorn weiter und suchten nach einem freien Platz. Das war alles andere als einfach, denn entweder waren sie bereits besetzt oder die Mitfahrenden schlossen die Türen, weil ihnen die verkleideten Geister nicht ganz geheuer waren.
»Ihr könnt bei mir mitfahren.« Es war die kleine Dampflok, die sie einlud. »Mein Name ist Lukas und ich freue mich jedes Mal wie ein Schneekönig, wenn ich jemanden mitnehmen kann. Vielleicht bringt ihr eine spannende Geschichte mit, die ihr mir auf der Fahrt erzählen könnt? Ich fahre nämlich auf meiner Strecke immer nur hin und her, den Berg hinauf und wieder hinunter. Das ist ein toller Job, aber irgendwie auch ein wenig langweilig.«
Lotti und das Geistermädchen stellten sich vor und kletterten an Bord. »Warum verzögert sich eigentlich unsere Fahrt? Bist du noch nicht bereit zu fahren? Müssen wir auf jemanden warten oder hast du vergessen, wo wir hin müssen?«
Lukas schnaufte. »Es gibt da ein kleines Problem. Mir gehen langsam die Kohlen aus, die den Dampf erzeugen, der mich antreibt. Leider wurde mein Lager nicht aufgefüllt. Der Kohlenlieferant hat sich irgendwo verspätet. Wir werden es also nicht bis in die Stadt schaffen. Wir hoffen einfach,dass er doch noch kommt.«
Nein, der Kohlenlieferant kam nicht. Die Fahrt musste ausfallen. Schon sahen Lukas und die beiden Geister die teils enttäuschten, teils wütenden Menschen vor ihren inneren Augen.
»Lässt sich denn da gar nichts machen?«, fragte das Geistermädchen vorsichtig. »Es braucht doch ein Feuer unter deinem Kessel. Brennt das nicht auch mit Holz statt Kohlen?«
Lukas schmunzelte. »Das habe ich noch nie ausprobiert. Ich hatte bisher immer genug Kohlen, um fahren und dampfen zu können. Aber wir könnten es versuchen. Es gibt nur ein Problem. Es gibt kein Holz im Lager.«
»Dann müssen wir sammeln.« Lotti blickte aus einem der Fenster. Dort oben auf dem Hügel beginnt ein Wald. Wir fahren direkt daran vorbei. Schaffst du die Strecke?«
Die kleine Dampflok überlegte, dachte nach, begann zu rechnen. »Das wird knapp, aber es müsste gerade eben reichen.«
»Dann ist es abgemacht.«
Kurz darauf setzte sich der Zug in Bewegung. Langsam ging es den Hügel hinauf. Lukas strengte sich an. Er pfiff aus dem letzten Loch und hoffte, dass ihm nicht die Puste ausging, bevor er über den Berg war.
Meter für Meter arbeitete er sich vorwärts, wurde immer langsamer. Mit Mühe und Not erreichte er die Spitze … und blieb unvermittelt stehen.«
»Es geht nicht mehr weiter. Ich hänge fest. Ich habe nicht mehr genug Dampf im Kessel. So wird das nichts.«
»Das haben wir gleich.« Lotti sprang aus der Dampflok, entschuldigte sich für das, was sie gleich machen wollte und gab ihr einen kräftigen Tritt mit ihrem schweren Stiefel. Lukas begann ganz langsam zu rollen. »Es funktioniert!« Lotti kletterte schnell wieder in den Führerstand. »Jetzt müssen wir nur noch genug Holz sammeln, damit wir es bis in die Stadt schaffen.«
Das namenlose Geistermädchen nickte. Es schwebte nach draußen, griff nach losem Astwerk und Zweigen und warf sie in Feuer, das von Sekunde zu Sekunde heller loderte. Insgeheim wünschte sie sich, dass dies auch mit ihrem Licht geschehen würde.
Lukas dampfte nun wieder aus Leibeskräften. Er gab ordentlich Gas und erreichte den Bahnhof der großen Stadt eine ganze Minute eher, als es im Fahrplan stand.
»Das hätte ich ohne eure Hilfe niemals geschafft. Hier kann ich wieder mit neuen Kohlen beladen werden. Wie kann ich euch nur danken?«
»Das hast du schon.«, winkte das Geistermädchen ab. »Du hast uns in die Stadt gefahren. Damit haben wir eine weitere Etappe auf unserer Suche hinter uns gebracht.«
Gemeinsam mit Lotti verließ sie die Dampflok. Sie verabschiedeten sich. Jetzt mussten sie nur noch herausfinden, wohin die weitere Reise führen würde.

(c) 2025, Marco Wittler

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