269. Der Wackelzahn

Der Wackelzahn

Hin und her ging es, rauf und runter, vor und zurück und in alle anderen Richtungen auch. In Leon sah in den Spiegel und spielte mit der Spitze seiner Zunge an seinem ersten Wackelzahn.
»Das ist ja seltsam. Warum ist der denn nicht mehr so fest, wie die anderen Zähne auch?«
Sofort lief er in die Küche.
»Mama, einer meiner Zähne wackelt. Was ist denn mit dem los?«
Mama musste lächeln. Dann erklärte sie Leon, was nun geschah.
»Das ist ganz normal. Weil du jeden Tag ein Stückchen größer wirst, wächst auch dein Mund mit. Und irgendwann sind deine Zähne für ihn zu klein. Deshalb fallen sie heraus und machen neuen, größeren Zähnen Platz.«
Sie öffnete ihren eigenen Mund und zeigte ihre großen Zähne vor.
»Aber der Zahn wackelt doch nur. Er fällt gar nicht raus. Wie soll denn dann der Neue wachsen können?«, beschwerte sich ihr Sohn.
In diesem Moment kam Onkel Paul herein.
»Habe ich richtig gehört? Der Kleine hat einen Wackelzahn, der nicht fallen will? Da kenne ich eine gute Methode.«
Er öffnete Leons Mund.
»Ich schau mir das nur mal eben an. Du musst keine Angst haben.«
Doch dann fing er an, mit den Fingern zu ziehen. Es war allerdings der falsche Zahn. Leon erschrak und biss Onkel Paul auf die Finger.
»Du kannst doch nicht einfach meine Zähne ziehen. Das tut doch weh.«
»Der Biss schmerzt auch.«, beschwerte sich Paul und verließ die Küche.
»Was ist denn hier los?«, fragte Christian, Leons großer Bruder.
»Ich habe einen Wackelzahn. Schau mal hier.«
Und schon spielte Leon wieder mit der Zunge daran herum.
»Das wird aber nichts mit neuen Zähnen, solang der noch wackelt. Der muss raus. Ich glaube, ich weiß auch schon wie.«
Christian kramte in seinen vollen Hosentaschen herum und zog eine lange Schnur daraus hervor.
»Das eine Ende binde ich um deinen Zahn, das andere um den Türgriff. Sobald Papa nach Hause kommt, zieht er deinen Zahn ganz schmerzlos heraus.«
Und so wurde es auch gemacht. Leon saß nun auf einem Stuhl und wartete darauf, dass Papa die Tür öffnen und den Zahn heraus ziehen würde. Alle waren ganz still.
Plötzlich hörten sie, wie die Haustür geöffnet wurde. Es konnte also nur noch Sekunden dauern. Die Türklinke zur Küche wurde herunter gedrückt und dann schwang die Tür auf. Leon hatte allerdings Angst bekommen und sprang Papa sofort entgegen.
»Was ist denn hier los?«, wollte Papa wissen.
»Christian hat meinen Wackelzahn mit einer Schnur an die Tür gebunden, damit du ihn damit heraus ziehst. Aber das kann doch unmöglich schmerzfrei sein.«
»Das darf doch wohl nicht wahr sein. Ihr benutzt ja richtig mittelalterliche Methoden. So zieht man doch heute keinen Zahn mehr.«
Papa schüttelte den Kopf.
»Ich werde euch jetzt mal zeigen, wie das geht.«
Er nahm seine Krawatte ab und band sie Leon um die Augen.
»Und nun öffne ganz langsam den Mund.«
Papa wagte es nicht, hinein zu fassen. Stattdessen steckte er seinem Sohn ein Brötchen in den Mund.
Leon war so überrascht, dass er sofort abbiss. Noch während er vor sich hin kaute, nahm er die Krawatte von den Augen und sah Papa verwundert an.
»Ich dachte du willst meinen Wackelzahn ziehen und nicht mich füttern.«
Papa lachte.
»Dann schau doch mal in den Spiegel.«
Und tatsächlich war der Zahn verschwunden. Er hatte sich beim Biss in das Brötchen gelöst.
»Das war eine richtig gute Idee, Papa. So machen wir das jetzt bei den anderen Zähnen auch, wenn sie zu wackeln beginnen.«

(c) 2009, Marco Wittler

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