Flaschenpostbote Knut klebt fest
Flaschenpostbote Knut stand im Büro des Flaschenpostamts und zog sich die Uniform glatt. Er hängte seine Ledertasche um und strich sich ein letztes Mal über seinen dicken Schnauzbart. Jetzt war er bereit, seine Tour zu beginnen. Heute gab es nicht viele Flaschen, die er ausliefern musste. Dafür durfte er aber ein ganz besonderes Ziel anschwimmen. Einmal im Jahr besuchte er den ältesten Meermann des Ozeans, der sich in einen Teich auf dem Land zurückgezogen hatte.
»Das wird ein langer Tag. Ich sollte mir noch etwas Verpflegung einpacken und eine Salbe, falls mir irgendwann die Flosse schmerzt.« Knut setzte sich seine Schirmmütze auf und machte sich auf den Weg.
Sehr schnell hatte der Flaschenpostbote die Grenze der Stadt erreicht. Schon bald fielen die Häuser hinter ihm zurück und wurden bald von Hügeln und Felsen verdeckt. Es ging durch die weiten Seegraswiesen, durch die Seetangwälder und über einen Tiefseegraben hinweg, dessen Boden nur die wenigsten Meermenschen mit eigenen Augen gesehen hatten. Nach mehreren Stunden erreichte Knut schließlich die Küste des Landes. Mühsam robbte er auf den Strand, bis er an eine Straße kam. Dort packte er aus seiner Tasche ein altes Skateboard aus, mit dem er sich auf dem Asphalt wesentlich schneller vorwärts bewegen konnte.
»Puh!«, stöhnte er immer wieder. »Ich hatte vergessen, wie warm es in der Welt der Menschen werden kann. Die Sonne ist mir eindeutig zu heiß. Ich brauche eine Pause, sonst trockne ich noch aus.«
Knut fuhr auf den Seitenstreifen und parkte im Schatten eines großen Baumes. »Viel besser. Hier lässt es sich aushalten.« Er nahm die Mütze ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Während sich der alte Meermann ausruhte, tropfte ihm etwas auf den Kopf. Er griff danach und blieb mit der Hand kleben. »Verdammt! Was soll das?« Knut versuchte, sich mit der anderen Hand zu befreien, doch auch sie blieb am Kopf kleben. »Ist das etwa eine Meermenschenfalle?« Er zappelte, er rief um Hilfe. Befreien konnte er sich aber nicht. Stattdessen tropfte immer mehr von dem goldgelben Klebstoff auf ihn herab. Über Knut war ein dicker Ast gebrochen, aus dem ununterbrochen Harz tropfte. Innerhalb eniger Minuten war er vollständig davon bedeckt.
Langsam blieb Knut die Luft weg. Es war ihm unmöglich geworden, auch nur einen einzigen Atemzug zu machen. Ihm fielen die Augen zu. Scheinbar hatte nun sein letztes Stündlein geschlagen.
Knut wachte auf und und holte ganz tief Luft. Er hatte es überlebt. Doch was war passiert? Er schlug die Augen auf und erschrak. Er war von unzähligen Menschen in weißen Kitteln umgeben.
»Dies ist der bedeutendste archäologische Fund aller Zeiten, meine verehrten Anwesenden.«, sagte eine Frau. »Dies ist der größte Bernstein, der jemals gefunden wurde. Sein Alter wird auf vierzig Millionen Jahre geschätzt. Im Innern befand sich ein Wesen, das in der Mythologie und im Märchen als Meermensch bezeichnet wird. Einen Teil dieses Wesens haben wir zur genaueren Untersuchung freigelegt.«
Der Flaschenpostbote erschrak. Hatte er wirklich vierzig Millionen Jahre geschlafen? Und was noch wichtiger war: wollte man ihn etwa nun aufschneiden? Dagegen musste er protestieren. Doch ihm blieb die Stimme weg. Seine Lippen steckten noch im Bernstein. Er sammelte all seine Kräfte und wollte sich befreien und …
… wachte schreiend unter dem Baum auf. Er war frei, er war unversehrt. Nur ein kleiner Tropfen Harz klebte in seinem Haar. »Ich muss vor Erschöpfung eingeschlafen sein. Dieser job ist einfach zu anstrengend. Ich sollte mir für die Lieferungen an Land einen Stellvertreter suchen.«
Knut legte sich wieder auf das Skateboard und rollte weiter zum Teich.
(c) 2022, Marco Wittler
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