Im Meer der (Ge-)Zeiten
Der alte Seebär stand seit Stunden hinter dem Steuerrad, starrte auf das Meer hinaus und hielt den Kurs zum fernen Ziel. Die Mannschaft war mit den Segeln beschäftigt oder reinigte das Deck. Irgendwann war es Zeit für die erste Pause.
Mit einem kurzen Seil machte der Seebär das Steuerrad an einem Holzpflock fest. Für ein paar Minuten konnte er das Schiff sich allein überlassen. Da sie bereits einige Seemeilen fern der Heimat waren, gab es hier weder Riffe noch Untiefen, die ihnen gefährlich werden konnten.
Er griff in seine Tasche, holte eine metallene Dose hervor und riss die Augen auf. Was er da sah, raubte ihm für einen kurzen Moment den Atem.
Das konnte – nein – das durfte einfach nicht sein. Das hatte es in all den Jahrzehnten aus See noch nie gegeben.
Der alte Seebär sprang auf. Er entfernte das Seil und wollte das Steuer herumreißen. Er musste zurück in den Hafen. Nur wie? Sie mussten auf Kurs bleiben, sonst würden sie es bis zum Abend nicht bis zum nächsten Hafen schaffen.
Der Seebär überlegte. Sein Blick fiel auf das zweite, viel kleinere Steuerrad. Seit einer Ewigkeit war es hier verbaut, doch niemand hatte je gewagt, es zu berühren. Durfte er es wagen? Durfte er davon Gebrauch machen?
»Ich habe gar keine andere Wahl. Ich muss es tun.«
Unauffällig machte er ein paar kleine Schritte zur Seite, behielt dabei die Mannschaft im Auge. Er wollte verhindern, dass man ihm seine Absichten ansah.
Er löste eine Sicherung, drehte vorsichtig das Rad ein Stück zurück und wartete auf die Dinge, die nun geschehen würden.
Der laue Wind wurde stärker. Eine große Welle baute sich auf und rollte dem Schiff entgegen. Es wurde vom Wasser ergriffen und zurückgeworfen. Innerhalb einen Augenschlages stand es wieder im Hafen, als wäre es am Morgen gar nicht ausgelaufen.
Der Kapitän kam aus seiner Kajüte, sah zur Schiffsbrücke hinauf. »Wer hat es gewagt, am Rad der Gezeiten zu drehen? Wer hat die Zeit um ein paar Stunden zurückgedreht?«
Der alte Seebär atmete auf. Was er all die Jahre nur erahnt hatte, erwies sich nun als Wahrheit. Dieses kleine, unscheinbare Steuerrad, das mit allerlei Papierschiffchen verziert war, hatte sich als Zeitmaschine entpuppt.
»Ist schon in Ordnung, Kapitän. Ich war das. Ich habe heute Morgen vergessen, meine Pausenbrote einzupacken.« Zum Beweis hielt er die leere Blechdose hoch. »Ich laufe schnell nach Hause, hole sie und drehe die Zeit wieder vor. Dann fahren wir weiter. Wir werden also keine einzige Minute verlieren.«
Der Kapitän seufzte. »Das mir das aber nicht noch einmal vorkommt. Man spielt nicht leichtfertig mit der Zeit. Stell dir vor, du läufst dir selbst über den Weg und bringst dich versehentlich zum stolpern. Dann kommst du wegen eines gebrochenen Beins nicht mehr an Bord und alles ist durcheinander.«
»Tut mir leid.« Der alte Seebär senkte reumütig den Kopf. »Darf ich trotzdem meine Pausenbrote holen?«
»Aber beeil dich.«
(c) 2022, Marco Wittler
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