Der Vampir
Mitternacht. Die alte Standuhr in der Eingangshalle hatte zur Geisterstunde geschlagen. Nachdem der zwölfte Gong verklungen war, regte sich etwas in dunkelsten Verlies im Keller der verlassenen Burg. Mit einem deutlich vernehmbaren Knarzen schob sich der Deckel von einem Sarg. Stöhnend richtete sich ein Wesen auf, das weder zum Reich der Lebenden, noch zu dem der Verstorbenen gehörte. Es war ein Untoter, ein Vampir und Blutsauger.
»Endlich!« Er streckte sich und ließ seine alten Knochen knacken. »Es ist Zeit für ein leckeres Frühstück. Ich habe unglaublich großen Hunger.«
Er stieg aus dem Sarg und strich seinen Anzug glatt. »Gutes Aussehen ist das A und O in meiner Branche. Niemand würde mich ernst nehmen, wenn ich eine Jogginghose tragen würde. Wie sagte schon mein guter Freund Karl, der leider nicht mehr unter uns weilt? Wer eine Jogginghose trägt, hat die Kontrolle über seinen Tod verloren.«
Der Vampir lachte laut, während er die steinernen Stufen hinaufschritt. »Es ist so eine herrliche Nacht.« Am ersten Fenster sog er die kühle Luft tief in seine Lungen ein. »Ich mache mich auf den Weg.«
Er verwandelte sich, nahm die Form einer unscheinbaren Fledermaus an und flatterte zum Dorf hinab.
»Oh, diese armen, armen Menschen. Sie alle haben ihre Häuser mit Fensterläden und schweren Türen verrammelt und verriegelt. Sie glauben tatsächlich, dass sie mich aufhalten könnten. Sie wissen gar nicht, dass es für einen Vampir nichts gibt, das ihn bremst.«
Der Vampir verengte seine Augen zu schmalen Schlitzen. »Es sei denn es sind Kruzifixe, Weihwasser und eine Knoblauchfarm.« Mit zugehaltener Nase setzte er sein weg über das stinkende Feld fort. »Wie kann man nur dieses Zeug essen? Es ist so ekelhaft.«
Er landete kurz vor einem alten Gehöft. Durch die Schlitze der Fensterläden war noch Licht zu sehen. »Verdammt! Der Bauer schläft noch nicht. Ich komme viel zu früh. Hoffentlich erwischt er mich nicht.«
Eine kleine Tür öffnete sich. Eine junge Magd kam mit einem Korb nach draußen geschlendert. »Da ist sie. Da kommt mein Frühstück.« Der Vampir strich sich genüsslich über den Bauch. Jetzt konnte ihn niemand mehr aufhalten. Der Duft, der ihm in die Nase stieg, war viel zu verführerisch. Er trat der Magd entgegen und versperrte ihr den Weg.
Sie sah ihn forsch an. Statt schreiend wegzulaufen, griff sie in ihren Korb und holte eine gelbrote Frucht hervor. »Wie immer eine Blutorange, der Herr?« Er nickte gierig, wollte zugreifen, aber sie zog die Orange zurück. »Das macht dann einen Silberling. Und schmatzt nicht wieder so laut. Der Bauer könnte euch hören. Erwischt er uns, ist unsere Geschäftsbeziehung beendet. Das wäre für uns beide äußerst unschön.«
Der Vampir nickte. Er gab ihr das Geld, nahm die Frucht entgegen und schlug seine Zähne in die Schale. Genüsslich begann er zu saugen. Hätte ihm doch nur jemand vorher gesagt, dass der Saft von Blutorangen viel leckerer war, als das Blut von jungen Frauen, er wäre sofort zum Vegetarier geworden.
»Wir sehen uns Morgen wieder. Kurz nach Mitternacht erwarte ich euch.« Die Magd drehte sich um und verschwand im Haus.
(c) 2022, Marco Wittler
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