Das Geheimnis der kleinen Blume
Hallo Steffi.
Erinnerst du dich noch an die kleine geheimnisvolle Blume, die ich von der Elfenkönigin geschenkt bekam? Endlich habe ich heraus bekommen, wofür sie gut ist. Aber ich fange erst einmal von vorn an.
Eine ziemlich lange Zeit habe ich sie jeden Tag in die Hand genommen, angeschaut, untersucht und darüber nachgedacht, was man mit ihr anstellen könnte. Eine Lösung habe ich allerdings nie gefunden. Du kannst dir ja gar nicht vorstellen, wie sehr ich mir den Kopf darüber zerbrochen habe.
Das Seltsamste daran war allerdings, dass sie nicht welkte. Sie blieb frisch wie am ersten Tag. Ich bewahrte sie in einem kleinen Kästchen auf, damit mein Bruder Tommi sie nicht finden konnte. Schließlich vergaß ich mein kostbares Geschenk nach und nach.
Und nun ist es Herbst geworden. Draußen werden zwar die Blätter der Bäume bunt, aber Blumen und Blüten gibt es fast keine mehr. Da fiel mir wieder ein, dass ich irgendwo ein kleines Kästchen versteckt hatte. Ich fand es unter meinem Bett wieder. Ganz gespannt öffnete ich es und durfte feststellen, dass meine Blume noch immer so schön aussah, als wäre es gerade erst mitten im Frühling. Da ging es mir gleich fiel besser.
Da die Sonne an diesem Nachmittag schien, ging ich in den Garten, setzte mich auf den Rasen und sah mir wieder einmal das kleine Pflänzchen an.
»Auch wenn du mir dein Geheimnis nicht verraten willst, bist du doch eine sehr schöne Erinnerung an die warmen Jahreszeiten. Ich hoffe, dass du auch den ganzen Winter über blühen wirst.«
Ich hielt sie hoch in den lauen Wind. Dieser ergriff gleich seine Chance und blies sanft durch die Blütenblätter. Feine Pollen rieselten zum auf mich herab.
Zuerst dachte ich mir nichts dabei. Doch dann begann es in meinem ganzen Körper zu kribbeln. Ich fand das ganz lustig, aber plötzlich schien sich alles zu verändern. Es flimmerte mir vor den Augen und ich bekam das Gefühl, die Welt um mich herum nur noch durch eine Lupe sehen zu können. Sie wurde nämlich immer größer und größer.
Aber dieser Eindruck war völlig falsch. Denn irgendwann wurde mir bewusst, dass nicht die Welt größer, sondern ich kleiner geworden war. Ich wollte aufstehen und sofort zu Mama laufen, doch dann verlor ich den Boden unter den Füßen. Ich schwebte in schwindelerregender Höhe durch den Garten.
Ich blickte hinter mich und entdeckte zwei durchsichtige, kräftig schlagende Flügelchen an meinem Rücken.
Schlagartig wurde mit bewusst, was geschehen war. Der Pollen der Blume hatte mich in eine kleine Elfe verwandelt. Ich hätte eigentlich angst haben sollen, doch stattdessen machte es mir sogar Spaß. Ich drehte eine Runde nach der anderen und flog sogar ein paar Loopings. Es war, als wäre ich schon mein ganzes Leben lang eine Elfe gewesen.
Aber konnte ich wirklich für immer so bleiben? Was würden meine Eltern dazu sagen? Außerdem bekam ich Angst, dass Tommi mich mit einem Insekt verwechseln würde. Ich sah ihn schon mit einer Fliegenklatsche hinter mir her laufen.
Ich flog also in den Wald und suchte nach dem Königreich der Elfen.
Ob du es glaubst oder nicht, es war viel einfacher zu finden, als ich dachte. Ich konnte spüren, in welchem Baum der Eingang lag. Ich wurde magisch davon angezogen. Schon nach kurzer Zeit entdeckte ich ein Loch in einem Baum. Furchtlos flog ich hinein und fand mich schon in der nächsten Sekunde in einer quietschbunten Welt wieder. Ich war im Elfenland angekommen.
Die anderen Elfen bemerkten mich sehr schnell, begrüßten mich freundlich und führten mich überall herum. Ich erfuhr, dass nur die Elfenkönigin selber eine gebürtige Elfe war. Alle anderen waren auf die gleiche Weise, wie ich zu einem geflügelten Wesen geworden.
Man führte mich zum Schloss. Im Thronsaal wurde ich bereits erwartet. Die Königin, die ich damals befreit hatte, saß mir gegenüber und lächelte.
»Es ist schön, dass du das Geheimnis der Blume heraus gefunden hast, liebe Nina. Ich heiße dich in meinem Reich willkommen. Denn das ist mein wahres Geschenk an dich.«
Ich hatte so viele Fragen auf den Lippen. Aber ich war auch zu nervös, um sie alle loszuwerden. Nur eine einzige brachte ich ohne Stottern hervor.
»Wie werde ich wieder zu einem Menschen? Meine Familie wird sich bestimmt schon bald große Sorgen um mich machen.«
Was sagte ich da? Konnte ich wirklich so dumm sein? Ich wurde von einer Königin eingeladen, bei ihr zu leben. Das Schloss war so luxuriös und ich war ein richtigte Elfe geworden. Das war so traumhaft. Also warum sollte ich wieder ein Mensch werden wollen?
»Fühlst du dich denn bei uns nicht wohl?«
Ich fühlte mich sogar sehr wohl. Und genau das wollte ich ihr auch sagen.
»Es ist wirklich schön hier. Aber ich gehöre einfach nicht hierher. Mein Platz ist bei meiner Familie.«
Ich konnte es gar nicht glauben, was ich da sagte. Aber es kam eindeutig aus meinem Mund.
»Niemand wird gezwungen, bei mir zu leben.«, sagte die Königin schließlich.
»Genieße noch ein wenig den Aufenthalt bei uns. Wenn du wieder nach Hause zurück möchtest, dann benutze einfach wieder den Pollen deiner kleinen Blume.«
Das klang gut. Ich schlug also kräftig mit meinen Flügeln und sah mir das ganze Königreich an. Ich sang, tanzte und spielte mit den vielen Elfen. Das war so unglaublich schön.
Doch irgendwann wurde es Zeit zu gehen. Ich verabschiedete mich und verstreute erneut etwas Pollen über meinem Kopf.
Kaum hatte ich das getan, zog es mich fort. Ich konnte gegen diesen Sog nichts ausrichten. Meine Flügel waren dafür zu schwach. Ich wurde aus dem Baum heraus gezerrt und raste durch die Wolken hindurch quer über die Stadt hinweg, bis ich schließlich ganz sanft wieder in unserem Garten landete.
Ich war wieder so groß wie noch vor ein paar Stunden. Meine Elfenflügel waren verschwunden.
Es musste ein Traum gewesen sein. Anders konnte ich mir das nicht erklären. Doch dann kam Tommi aus dem Haus gelaufen.
»Das hab ich genau gesehen.«, rief er mir sauer entgegen.
»Du bist durch die Luft geflogen. Das werde ich Mama und Papa erzählen. Dann bekommst du ganz viel Ärger.«
Ich musste lachen. Es war wohl doch kein Traum gewesen. Aber wer würde meinem kleinen Bruder schon so etwas glauben? Meine Eltern bestimmt nicht.
Ich ging zurück in mein Zimmer und versteckte meine kleine Blume wieder unter dem Bett. Da hörte ich noch einmal die Stimme der Elfenkönigin.
»Du kannst jederzeit zu Besuch in mein Königreich kommen. Benutze dafür einfach deine Blume.«
Das war es auch schon wieder. Ich freue mich auf deinen nächsten Brief.
Deine Nina.
P.S.: Was hälst du davon, wenn wir bei deinem nächsten Besuch gemeinsam in das Elfenland fliegen?
(c) 2008, Marco Wittler
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