Marathon
Endlich war es so weit. Auf diesen Tag hatte sich Papa ein ganzes Jahr vorbereitet. Mehrmals in der Woche hatte er hart trainiert, war immer wieder die Geh- und Waldwege entlang gelaufen. Das alles nur für ein einziges Ziel: Den Weihnachtsmarathon im Dorf zu gewinnen.
Schon ein paar Mal hatte er es versucht. Im ersten Jahr war er gar nicht bis ins Ziel gekommen. Die Strecke über zweiundvierzig Kilometer war bei den kalten Temperaturen einfach zu viel gewesen. Doch danach hatte er sich Jahr für Jahr nach vorn gekämpft. Das einzige, was Papa noch fehlte, war der Sieg. Dieses Mal wollte er ihn sich endlich holen.
An diesem Tag war die ganze Familie auf den Beinen. Papas Sohn Max stand mit seiner dicken Winterjacke am Start und feuerte Papa an. Hinter ihm standen noch Oma, Opa, Mama und seine kleine Schwester Sara. Sie alle drückten Papa die behandschuhten Daumen.
Und da ertönte der Startschuss. Die einhunderfünfzig Läufer, denen der Dezember nicht zu kalt zum Laufen war, setzten sich in Bewegung. Schon wenige Meter hinter der Startlinie begann Papa sein erstes Überholmanöver. Nach und nach ließ der einen Läufer nach dem anderen hinter sich. Es sah gut aus für den Sieg. Aber noch lagen die zweiundvierzig Kilometer vor ihm.
Nachdem alle Teilnehmer hinter der ersten Kurve verschwunden waren, wurde es langweilig und kalt. Max und der Rest der Familie zogen sich in das nahe Gemeindehaus der Dorfkirche zurück. Dort war es warm. Es gab heißen Tee, Kuchen und eine ordentliche Gulaschsuppe. Die Erwachsenen unterhielten sich miteinander, während sich die Kinder schminken oder von einem Zauberer verzaubern lassen konnten. Ein paar Spielstationen gab es auch noch.
„Wie lange wird Papa denn unterwegs sein?“, fragte Max irgendwann.
„Wenn alles gut geht, dann kommen die ersten Läufer nach etwa vier Stunden ins Ziel.“, erklärte Opa
Max übte sich also weiter in Geduld und wartete.
Nach fast vier Stunden hielt es ihn nicht mehr im Gemeindehaus. Er wollte Papas Sieg nicht verpasst. Also ging er gemeinsam mit seiner Familie nach draußen. Sie stellten sich in der Nähe der Ziellinie auf, hielten mehrere Kameras und Handys bereit, um ein möglichst gutes Foto von Papa machen zu können.
Über der Ziellinie hing eine große Uhr, auf der die aktuelle Zeit der Läufer angezeigt wurde. Ein Mann mit Mikrofon kommentierte alles, was er sah und was ihm sonst noch einfiel.
Die Uhr zeigte 3:59:00. In einer Minute würden die vier Stunden rum sein. Papa hatte sich gewünscht, das erste Mal in seinem Leben unter diesen vier Stunden bleiben zu können.
„Das wird bestimmt richtig schwer, weil es viel kälter ist.“, hatte er gesagt. Trotzdem wollte er sein Bestes geben.
„Und da sehe ich auch schon den ersten Läufer auf die Zielgerade biegen. Wenn er so weiter macht, wird er unter vier Stunden bleiben.“, sagte der Sprecher von seinem erhöhten Stehplatz.
„Nur noch wenige Meter trennen ihn vom Ziel. Ach, und da kommt auch schon der Zweite. Sie sind ganz nah beeinander. Das wird ein Kopf an Kopf rennen. Wer wird wohl unseren diesjährigen Weihnachtsmarathon gewinnen?“
Max streckte sich. Er machte seinen Hals so lang wie möglich, um etwas sehen zu können.
Tatsächlich war das Papa, der ganz vorn lief.
Max jubelte. Er feuerte Papa an. Doch da war plötzlich der zweite Läufer. Dieser gab nochmal richtig Gas. Er holte Papa ein. Dann erkämpfte sich Papa wieder einen kleinen Vorsprung, der er aber sofort wieder verlor. Bis zum Ziel waren die Beiden auf gleicher Höhe. Aber auf dem letzten Meter fiel Papa zurück und der Andere gewann den Marathon.
Max staunte. Denn es war nicht irgendwer, der da gewonnen hatte. Der Sieger trug einen langen Mantel und eine dicke Mütze in roter und weißer Farbe. Seine Füße steckten nicht in Laufschuhen, sondern in dicken Stiefeln. Im Gesicht hatte er einen langen, weißen Bart. Und seinen Sieg bejubelte er mit einem lauten ‚Ho ho ho‘.
Der Gewinner war der Weihnachtsmann.
„Ich habe gegen den Weihnachtsmann verloren?“, war Papa verzweifelt. „Das darf doch nicht wahr sein. Was machst du denn hier? Ich wusste gar nicht, dass du Marathon läufst.“
Der Weihnachtsmann grinste.
„Glaubst du etwa, ich würde es schaffen, in einer Nacht alle Geschenke zu verteilen, wenn ich nicht vorher trainieren würde?“
Papa seufzte. Damit hatte er nun wirklich nicht gerechnet. Zum Trost fiel ihm Max um den Hals.
„Papa, das hast du ganz, ganz toll gemacht. Für mich bist du die Nummer Eins. Gegen so einen Profi hat halt niemand eine Chance.“
(c) 2017, Marco Wittler
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