Die Zuckerbäckerei
In der alten und ehrwürdigen Zuckerbäckerei der Stadt wurde ohne Unterlasse gearbeitet. Das Weihnachtsfest stand bevor und jeder wollte etwas von den kleinen und großen Leckereien bekommen.
Wer nicht viel besaß, kaufte sich ein paar Kekse, wer nicht auf den Kreuzer oder Taler achten musste, nahm auch gern eine große, mehrstöckige Torte mit allem drum und dran.
Wie in jedem Jahr stand auch dieses Mal der alte Zuckerbäcker hinter einer großen Glasscheibe, durch die er sich bei der Arbeit beobachten ließ.
Jeder, der durch die Stadt ging, blieb den einen oder anderen Augenblick stehen, verweilte und träumte davon, die leckeren Zuckerwaren schon bald am Weihnachtsabend verspeisen zu dürfen.
Das hatte Tradition, das gehörte in der Stadt einfach dazu. Das machte jeder.
Am Morgen des Heiligabends war es dann so weit. Vor der Zuckerbäckerei gab es einen großen Andrang. Eine riesige Menschentraube hatte sich gebildet. Jeder, der etwas oder auch mehr Geld hatte auftreiben können, stand nun hier und wollte sich selbst und seine Liebsten mit leckerstem Naschwerk beschenken. Sogar der Bürgermeister hatte sich auf den Weg vom Rathaus hierher gemacht.
»Aus dem Weg!«, ließ dieser immer wieder seine Dienerschaft rufen. »Macht Platz für den Bürgermeister! Er ist zu wichtig und hat zu wenig Zeit. Er kann es sich nicht erlauben, seine wertvolle Zeit in der Schlange zu verschwenden.«
Zuerst wurden die Ärmsten der Armen zur Seite verdrängt. Sie hatten eh kein Geld dabei und konnten den anderen beim Kauf nur Zuschauen.
Danach machten dann auch die anderen Menschen murrend Platz. Mit den Männern des Bürgermeisters wollte sich niemand anlegen. Schließlich hatte sich ein breiter, freier Gang in der Menschentraube gebildet. Der Bürgermeister legte sein breitestes Lächeln auf und marschierte majestätisch durch seine Bürger hindurch. Vor der Tür der Zuckerbäckerei blieb er stehen.
»Na, was ist denn?«, forderte er seine Leute auf. »Es wird Zeit, dass jemand für mich anklopft.«
Aber die Männer rührten sich nicht vom Fleck.
»Aber Herr.«, entschuldigten sie sich. »Es ist niemandem gestattet, die Zuckerbäckerei zu betreten, bis der alte Meister selbst die Tür öffnet und die Menschen herein bittet.
Der Bürgermeister winkte verärgert ab.
»Papperlapapp! Weiß dieser Zuckerbäcker denn nicht, wer ich bin und welche Stellung ich in unserer schönen Stadt einnehme? Wer ist er denn schon, dass er die Frechheit besitzt, mich hier warten zu lassen? Öffnet mir sofort die Tür. Ich brauch Naschwerk für mich und meine Frau, die schon ungeduldig wartet.«
Einer seiner Männer trat unsicher vor und wollte gerade eine seiner Hände an den Türknauf legen, als sich die Tür öffnete.
»Es ist vollbracht.«, sagte der alte Zuckerbäcker. »Das Weihnachtsfest kann schon bald beginnen. Wir haben auch in diesem Jahr wieder reichlich gebacken, um euch alle glücklich zu machen. Ich hoffe, dass jeder findet, was er sucht und begehrt.«
Dann sah er mit gütigem Blick durch die Menschenmasse.
»Ihr habt leider nicht alle Platz in unserem bescheidenen Geschäft. Deswegen muss ich darum bitten, langsam, nacheinander herein zu kommen. Viele von euch werden hier draußen warten müssen, bis sie an der Reihe sind.«
Er lächelte.
»Beginnen wir mit den Menschen, die sich einen Besuch in der Zuckerbäckerei am meisten verdient haben.«
Der Bürgermeister begann zu grinsen. »Das wurde ja auch mal Zeit. Ich warte schon viel zu lange auf Einlass.«
Er trat vor und wollte sich am Zuckerbäcker vorbei schieben. Doch dieser versperrte ihm mit vor der Brust verschränkten Armen den Weg.
»Was soll das?«, beschwerte sich der Bürgermeister lauthals. »Was fällt dir ein, mich so zu behandeln? Ich bin der Bürgermeister und habe ein Anrecht darauf, als Erster deinen schäbigen Laden zu betreten.«
Der Blick des Zuckerbäckers verfinsterte sich.
»Ihr habt vielleicht ein Anrecht, jederzeit das Rathaus und die Stadthalle zu betreten. Aber in meiner Zuckerbäckerei bin ich der Herr und bestimme, wem ich Einlass gewähre und wem nicht. Ihr, Herr Bürgermeister, seid jedenfalls noch nicht an der Reihe.«
Dann bat der Zuckerbäcker die Armen zu sich. Nacheinander nahm er sie mit hinein und beschenkte sie mit reich gefüllten Taschen voller Plätzchen, Keksen und lecker duftendem Brot.
»Die Armen stehen jeden Tag in unseren Straßen und wissen nicht, wovon sie sich etwas zu Essen kaufen sollen. Wenigstens einmal im Jahr sollen sie wie Könige behandelt werden. Daran sollten sie sich ein Beispiel nehmen, Bürgermeister.«
Nach dem Armen kamen die anderen Bürger an die Reihe. Einer nach dem anderen kaufte Naschwerk und brachte es freudig nach Hause.
Ganz zuletzt, als der Himmel schon dunkel wurde, gestattete der Zuckerbäcker dem Bürgermeister zu sich zu kommen.
»Für euch, feiner Herr, habe ich etwas ganz Besonderes aufbewahrt.«
»Aufbewahrt?«, beschwerte sich der Bürgermeister. »Was soll dieser schlechte Scherz. Deine Regale und Schränke sind leer. Da findet sich nicht einmal mehr ein einziger, schäbiger Krümel.«
Der Zuckerbäcker griff in die Tasche seiner Schürze und holte einen kleinen Zimtstern hervor.
»Bitteschön, Bürgermeister. Das ist mein letztes Stück. Danach ist mein Laden wirklich leer. Den schenke ich euch. Möge er euch daran erinnern, dass auch ihr und eure Frau nur Menschen seid, so wie alle anderen auch.«
Mit einem Grinsen verabschiedete er den Bürgermeister, der mit hochrotem Kopf nach Hause stapfte.
(c) 2018, Marco Wittler
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