Auf einer kleinen Eisscholle
Bruno schlief tief und fest unter einer dicken Schneedecke, die sich über seinem Körper gebildet hatte. Doch das störte ihn nicht weiter. Er schnarchte gemütlich vor sich hin.
Für einen Menschen mag dieses Verhalten vielleicht seltsam klingen, immerhin ist schlafen im Schnee nicht ganz ungefährlich. Aber bei Bruno handelte es sich eben nicht um einen Menschen. Er war ein großer, dicker Eisbär, der es gewohnt war, dass es in der Nähe des Nordpols ziemlich frostig werden konnte.
Mitten in einem schönen Traum wurde Bruno plötzlich wach. Er hatte ein lautes, knackendes Geräusch gehört. Und dann begann alles um ihn herum zu schwanken.
Bruno gähnte laut, rieb sich die Augen und erhob sich. Dabei rieselte der ganze Schnee von seinem Körper herab.
Er sah sich um, kratzte sich am Kinn und wunderte sich über die komplett veränderte Umgebung.
»Moment mal. Als ich mich zum Schlafen gelegt habe, lag ich noch mitten in einer gefrorenen Eiswüste. Und jetzt befinde ich mich am Meeresufer. Da stimmt doch was nicht.«
Er warf einen Blick über die Schulter und wunderte sich ein weiteres Mal.
»Noch mehr Wasser? Will mich da jemand auf den Arm nehmen?«
Tatsächlich befand sich Bruno auf einer kleinen, schwimmenden Eisscholle, die langsam durch den arktischen Ozean trieb.
»Oh man. Das darf doch nicht wahr sein.«, ärgerte sich Bruno.
Während er geschlafen hatte, musste es einen Temperaturanstieg gegeben haben, der das Packeis zum Brechen gebracht hatte.
Bisher hatte sich Bruno immer von Eisschollen fern gehalten. Er füllte sich in der Nähe von festem Eis oder Boden sicherer. Man wusste schließlich nie, wohin einen der Wind treiben konnte. Aber nun war es zu spät.
»Dieser verdammte Klimawandel.«, war der Eisbär sauer. »Daran sind diese verrückten Menschen schuld, denen unsere Natur völlig egal ist. Und ich muss jetzt zusehen, wie ich aus diesem Schlamassel wieder raus komme.«
Er sah sich schon einsam und allein über das Wasser treiben, halb verhungert und verdurstet. Bruno brauchte also ganz schnell eine Idee.
Als er so da saß und sich den Kopf zerbrach, landete immer wieder Treibgut an seiner Eisscholle. Darunter befanden sich leere Plastikflaschen, alte Fischernetze, Äste, die von weit entfernten Bäumen stammen mussten und irgendwann auch ein Segelfetzen.
»Hm. Daraus müsste sich doch etwas machen lassen.«
Bruno sah sich den Müll genauer an, begann einfach zu basteln. Er steckte mehrere Äste in das Eis und knotete mit Teilen der Netze das Segeltuch daran. Der aufkommende Wind blies hinein und trieb nun die Eisscholle mit einer wesentlich höheren Geschwindigkeit durch den Ozean.
»Wow!«, war Bruno begeistert. »Was für eine tolle Erfindung. Damit kann ich jetzt in kürzester Zeit von Insel zu Insel fahren. Dann finde ich auch immer genug zu futtern.«
Doch so schnell sollte er gar nicht wieder an Land kommen. Nach nur wenigen Kilometern entdeckte er am Horizont eine weitere Eisscholle, auf der ein Schneefuchs zitternd vor Kälte saß. Ihn hatte das selbe Schicksal getroffen, wie den Eisbären.
»Los, Kleiner!«, rief ihm Bruno entgegen. »Spring zu mir rüber. Ich bringe dich in Sicherheit.«
Gemeinsam machten sie weiter Fahrt über das unendliche Wasser, fanden immer wieder gestrandete Tiere, die es zu retten galt. Mit der Zeit vergrößerten sie ihre schwimmende Eisinsel, indem sie mit den Fischernetzen neue Schollen daran festbanden.
Nach ein paar Tagen, als endlich Land in Sicht kam, waren sie zwanzig Tiere, die nun vor dem sicheren Tod gerettet waren.
Bruno war glücklich, sich wieder auf festem Boden niederlassen zu können. Doch schon nach wenigen Stunden kribbelte es ihn in seinen Tatzen. Irgendwie hatte ihm das Leben auf See gefallen.
»Außerdem gibt es da draußen bestimmt noch mehr Tiere, die gerettet werden müssen.
Und so begann Eisbär Bruno ein ganz neues Leben.
(c) 2019, Marco Wittler
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