Da stimmt etwas nicht
Das frisch geborene Geistermädchen seufzte laut. »Ich glaube nicht, dass mir irgendwer helfen kann. Irgendwas ist bei meiner Geburt schief gelaufen. Das kann man unmöglich rückgängig machen.«
»Doch das geht. Warum sollte es auch nicht.«, warf Roselotte Brombeergeist ein. »Ich glaube felsenfest daran.«
»Aber was ist mit dir?« Das namenlose Geistermädchen sah Lotti von oben bis unten an. »Du gehörst schon seit einem Jahr zur Gemeinschaft der Geister, kannst aber trotzdem nicht schweben. Du läuft auf Füßen durch die Wiese.«
Lotti wurde rot im Gesicht. Sie hatte nie darüber nachgedacht, ob sie eines Tages schweben oder Wände durchdringen könnte. Für sie war es selbstverständlich und völlig normal, dass sie auf schweren Stiefeln durch die Welt marschierte. Aber ein fehlendes Geisterlicht. Daran musste man unbedingt etwas ändern.
»Bei mir ist das etwas anderes. Ich wurde viel zu früh geboren, weil ich zu ungeduldig war. Ich hab es einfach nicht mehr abwarten können, bis der erste Lichtstrahl des Vollmonds mich erwecken wollte. Aber bei dir ist das geschehen. Es muss also andere Gründe haben. Wir sollten uns auf die Suche nach einer Lösung machen.«
Das Geistermädchen seufzte erneut und ließ die Schultern hängen. »Oder ich bleibe einfach ein dunkler Geist und muss jeden warnen, der versehentlich in der Nacht gegen mich laufen und über mich stolpern könnte.«
Lotti schüttelte den Kopf. »Kommt gar nicht in die Tüte. Ich habe schon ganz anderen Geistern und Wesen geholfen. Es wäre doch gelacht, wenn ich das nicht auch noch bei dir schaffe.«
Sie hielt dem Geistermädchen die offene Hand hin. »Darf ich?« Sie wartete, bis die andere die Hand ergriff. Gemeinsam kletterten sie zu Boden, wo der Oberste der Gemeinschaft schon auf sie wartete.
»Das sich dein Geisterlicht nicht entzündet hat, obwohl der Mond sehr großzügig seines an uns verschenkt, ist nicht ganz unmöglich, nur sehr unwahrscheinlich. Ich habe in einem sehr alten Buch gelesen, das vor langer, langer Zeit schon einmal ein Geist ohne Licht geboren wurde. Er machte sich auf eine lange Reise in ein Land, in dem man sich mit Licht und Feuer ganz besonders gut auskennt.«
»Wie kommt man in dieses Land?« Lotti war wild entschlossen, sich sofort auf die Reise zu machen, egal wie weit sie die beiden Geister führen würde.
»Das ist tatsächlich ein Problem. Niemand weiß, wo dieses Land liegt. Dieser Ort ist nämlich nie in den alten Büchern verzeichnet worden. Ob es sich überhaupt um eine wahre Geschichte handelt oder nicht, können wir auch nicht mit Sicherheit sagen, denn manchmal handelt sie von einem lichterlosen Geist, mal von einem Drachen, der aus Versehen sein Feuer gelöscht hat. Du siehst, eine Lösung des Problems wird alles andere als einfach.«
»Wir machen uns trotzdem auf die Reise.« Lotti stemmte die zu Fäusten geballten Hände in die Seiten. »Dann suchen wir halt nach einem Geist, der sein Licht gefunden oder einem Drachen, der sein Feuer wieder entfacht hat. So schwer kann das doch nicht sein.«
Der Oberste schüttelte den Kopf. »Ich kenne keinen einzigen Geist, der sein Licht suchen musste. Auch bin ich mir gar nicht sicher, ob es außerhalb des finsteren Waldes überhaupt andere Geister gibt. Und die Sache mit dem Drachen wird doppelt schwierig. Man munkelt, dass sie schon vor langer Zeit von edlen Rittern ausgerottet wurden. Gib die Suche lieber auf, Roselotte, Brombeergeist.«
Lottis Gesicht wurde rot vom Zorn,der Wut und der Hilflosigkeit, die sie in diesem Augenblick verspürte. »Ich sage es seit einem ganzen Jahr an jedem verdammten Tag. Ihr sollt mich Lotti nennen.«
Sie nahm das namenlose Geistermädchen wieder an die Hand, stapfte mit ihren schweren Stiefeln los und zog sie hinter sich her. »Wir suchen trotzdem. Dann soll uns halt ein Ritter den Weg zeigen oder uns verraten, wo sie noch ein lebender Drache befindet. Ich bin mir felsenfest sicher, dass wir das schaffen.«
Kaum hatte sie ihren Satz beendet, erreichten sie auch schon den Rand der Lichtung und verschwanden zwischen dichten Büschen und Bäumen im finsteren Wald.
(c) 2025, Marco Wittler
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