488. Weihnachtsfest im Tierheim (Tierheimgeschichten 10)

Weihnachtsfest im Tierheim

Draußen war es kalt geworden. Seit Tagen fielen unaufhörlich dicke Schneeflocken vom Himmel. Längst schon war die Welt unter einer dicken weißen Decke begraben worden. Weihnachten stand vor der Tür. Alle Bewohner des Tierheims freuten sich bereits auf das Fest und gaben sich sehr viel Mühe, dies auch zu zeigen.
Hunde und Katzen ärgerten sich nicht mehr gegenseitig, die Papageien verzichteten darauf, ihre Käfige zu öffnen, um abzuhauen und die dicken Hängebauchschweine buddelten keine tiefen Löcher in den Rasen. Das lag aber nicht daran, dass sie sich benehmen wollten, sondern war eine Folge der dicken Schneedecke.
Im Haus der Hunde war man besonders aufgeregt. Die Welpen hatten große Socken unter einem Fenster aufgehangen und hofften auf leckere Knochen, die ihnen der Weihnachtsmann bringen sollte. Die erwachsenen Hunde schrubbten und putzten jede Ecke und jeden Winkel.
»An Weihnachten soll es hier gut aussehen. Wenigstens einmal im Jahr soll bei uns Ordnung herrschen.«
Alle waren beschäftigt und freuten sich auf die nächsten Tage. Nur einer von ihnen saß traurig in einer Ecke und hatte seinen Blick zum Boden gesenkt. Es war der alte Mischlingsrüde Bruno.
»Was ist mit dir los, Bruno?« wurde er von einem der Welpen gefragt. »Freust du dich denn gar nicht auf Weihnachten? Das ist doch das schönste Fest des Jahres. Es gibt reichlich leckeres Futter, es kommen uns viele Menschen besuchen, die uns streicheln und wir gehen öfter Gassi als im restlichen Jahr. Das muss man doch einfach wunderbar finden.«
Aber Bruno seufzte nur.
»Ihr habt ja Recht. Wir bekommen wirklich tolles Futter an Weihnachten. Das sieht man auch an meinem dicken Bauch. Und Menschen kommen auch viele zu uns. Aber am Ende gehen sie wieder nach Hause – ohne einen von uns mit nach Hause zu nehmen. Wir müssen hier bleiben. Keiner von uns bekommt zu Weihnachten ein neues Zuhause.«
»Das stimmt doch gar nicht.« mischte sich eine ältere Hündin ein. »Jedes Jahr haben ein paar Menschen einige unserer Welpen zu sich geholt. Ein paar von uns bekommen eine neue Familie.«
Bruno seufzte wieder. Dieses Mal noch etwas lauter als zuvor.
»Die Welpen bekommen ein neues Zuhause. Das stimmt. Das liegt aber daran, dass sie klein und süß sind. Aber was ist mir mir? Ich lebe jetzt seit zehn Jahren im Tierheim. Mich will niemand mehr haben. Ich bin alt, habe einen kranken Rücken und krumme Beine. Mein Fell ist schon lange grau geworden. Hören und Sehen fällt mir auch immer schwerer. Wer interessiert sich schon für einen alten Hund?«
Er legte sich auf eine dicke Decke, die direkt vor einer Heizung lag, streckte sich aus und seufzte ein drittes Mal.

Einen Tag später war es dann so weit. Das Weihnachtsfest sollte beginnen. Es war Heiligabend. Den ganzen Vormittag strömten unzählige Menschen und Familien in das Tierheim. Sie fütterten die Bewohner, gingen mit ihnen Gassi, knuddelten und kuschelten sie. Ein paar Kinder durften sich sogar ein neues Haustier aussuchen.
»Wir geben die Tiere aber erst nach Weihnachten ab.« erklärte die Chefin des Tierheims immer wieder. »Wir möchten vermeiden, dass unsere Tiere ein Geschenk werden, dass nach den Feiertagen langweilig oder zu anstrengend geworden ist. Wir möchten sie nicht wieder hier aufnehmen müssen. Das wäre zu traurig für unsere Tiere.«
Wer aber jetzt schon einen neuen Besitzer gefunden hatte, bekam eine rote Marke an sein Halsband gehängt. »Vermittelt« stand darauf.
Bruno ging aber wie immer leer aus. Er hatte es auch nicht anders erwartet. Als es schließlich dunkel war und das Tierheim geschlossen wurde, war die Tierheimchefin sehr zufrieden.
»Das ist das erste Mal, dass wir zum Jahresende alle Hunde vermitteln konnten. So gut lief es noch nie.«
Sie ließ ihren Blick noch einmal über ihre Liste schweifen. »Na gut, Bruno ist noch übrig geblieben. Aber alle anderen haben Glück gehabt.«
Währenddessen sah Bruno um sich herum nur glückliche Gesichter. Seine Seufzer wurden immer lauter und länger, denn er wusste, dass er nach Weihnachten ganz allein im Hundehaus leben würde.
Traurig sah er zum Fenster hinaus. Die Wolken rissen gerade auf und gaben den Blick auf den Mond frei. Eine unglaublich wunderschöne Aussicht.
»Ich bin doch auch nur ein Hund.« flüsterte Bruno plötzlich. »Ich habe keine großen Wünsche. Ich will nur einmal in meinem Leben richtig glücklich sein. Ich will keine leckeren Knochen und kein federweiches Bett zum Schlafen. Ich will einfach nur eine kleine Familie, die mich lieb hat. Bitte, lieber Weihnachtsmann, wenn es dich wirklich gibt, dann hilf mir.«
Er schloss die Augen und schlief ein.

Ein paar Minuten später schreckte er hoch. Ein lautes Geräusch hatte ihn geweckt. Müde sah er sich um. Die Tür zum Garten war geöffnet worden. Die Chefin des Tierheims kam mit einem freundlichen Lächeln herein und ging direkt auf Bruno zu.
»Hey, mein Dicker.« sagte sie mit sanfter Stimme und streichelte ihm über den Kopf. »Ich hab was für dich mitgebracht.«
Sie holte hinter dem Rücken Hundeleine und Halsband hervor, welches sie ihm anlegte.
»Ich will doch gar nicht Gassi gehen. Ich bin müde und will schlafen.« dachte sich Bruno.
»Ich nehm dich jetzt mit zu mir nach Hause.« erklärte ihm die Frau. »Wir zwei kennen uns jetzt schon so lange, und mögen uns so sehr, ich kann dich nicht mehr hier allein lassen. Das tut mir im Herzen weh. Ab jetzt wirst du bei mir Zuhause leben.«
Sie nahm Bruno auf die Arme und trug ihn nach Draußen.
Mit nach Hause? Zu einer Familie? Bruno wollte es erst gar nicht glauben. Das konnte doch nur ein Traum sein. Doch dann spürte er die kalte Luft des Winters, die ihn richtig wach machte.
»Ich habe eine Familie gefunden!« rief er den anderen Hunden zu. »Ich habe endlich eine Familie gefunden! Ich komme nicht mehr zurück. Ich habe endlich ein neues Zuhause. Behaltet mich in guter Erinnerung.«
Er grinste über das ganze Gesicht. Seine Freude war riesig, denn ihm wurde klar, dass alle vermittelten Hunde noch ein paar Nächte im Tierheim bleiben mussten. Er war der erste, der abgeholt worden war.
»Vielen Dank, lieber Weihnachtsmann.« murmelte er leise vor sich hin.

(c) 2014, Marco Wittler

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