Der Schatz im See
oder »Papa, warum sind Frosch und Schnecke Freunde?«
Liebe Steffi.
Endlich haben die Ferien begonnen und ich kann es kaum erwarten, dir diesen Brief zu schreiben, denn sonst weiß ich nicht, was ich vor lauter Langeweile anstellen soll.
Mama und Papa sind in diesem Jahr seit zehn Jahren verheiratet. Aus diesem Grund wollten sie eine Woche lang ganz allein in den Urlaub fahren. Wir Kinder werden danach hinterher gebracht, um den Rest der Zeit mit ihnen gemeinsam zu verbringen.
Ich verstehe das gar nicht. Ohne mich ist den Beiden doch bestimmt richtig langweilig.
Oma und Opa schlugen vor, zuerst zu ihnen zu kommen. Mein Bruder Tommi war auch sofort begeistert und begann seinen Koffer zu packen – zwei Wochen bevor es los ging.
Ich wollte aber auf keinen Falle eine ganze Woche lang von ihm bei meinen Großeltern genervt werden. Also brachte mich Mama zu Tante Ina und Onkel Lutz.
Und nun sitze ich hier und langweile mich. Es gibt in der ganzen Gegend keine anderen Kinder in meinem Alter. Ich muss mir stattdessen die Zeit mit meiner kleinen Cousine Sofie vertreiben. Sie ist erst fünf und unglaublich neugierig. Zu allem muss sie ständig Fragen stellen.
Heute Vormittag war es dann wieder so weit. Nach dem Frühstück gingen wir zusammen in den Garten. Onkel Lutz wollte den Teich verschönern, Algen entfernen und neue Blümchen einpflanzen. Sofie saß natürlich ganz nah dabei und beobachtete alles sehr genau. Doch schon während der Vorbereitungen sah sie ein paar Tiere im Gras sitzen. Eines von ihnen quakte die ganze Zeit.
»Was ist das denn für ein lustiges Tier?«, fragte Sofie.
»Das ist doch nur ein ganz normaler, langweiliger Frosch.«, kam ich Onkel Lutz zuvor.
»Und was macht der in unserem Garten?«, setzte sie hartnäckig fort.
Ich sah mich schnell um, entdeckte noch ein anderes Tier und antwortete schnell mit einem weiteren dummen Spruch.
»Er trifft sich mit der Schnecke da drüben. Die sind dicke Kumpel.«
Sofie sah mich verwirrt an. Ich hatte sie tatsächlich herein legen können. Dann sie sie ihren Vater an und stellte ihm eine neue Frage.
»Papa, warum sind Frosch und Schnecke Freunde?«
Onkel Lutz hielt inne, kratzte sich am Kinn und dachte nach. Irgendwann schien ihm etwas einzufallen.
»Das ist eine gute Frage.«, sagte er schließlich.
»Dazu fällt mir eine Geschichte ein, die ich erst kürzlich gehört habe. Sie handelt zufällig von einem kleinen Frosch und einer Schnecke. Und die werde ich euch jetzt erzählen.«
Sofie strahlte über das ganze Gesicht und ihre Augen begannen zu leuchten.
»Oh ja, eine Geschichte.«, rief sie laut.
»Und wie fängt eine Geschichte immer an?«, fragte Onkel Lutz.
Sofie lachte schon voller Vorfreude, aber ich war etwas schneller und antwortete gespielt gelangweilt.
»Ich weiß es. Sie beginnt mit den Worten ›Es war einmal‹.«
»Ja, das stimmt. Absolut richtig, Nina. Du kennst dich ja gut aus. Also, es war einmal …«
Es war einmal ein kleiner Frosch. Den ganzen Tag saß er in einem kleinen Teich und sah den Fliegen beim Spielen zu. Keine einzige von ihnen hatte Angst, gefressen zu werden, denn der beste Freund dieses Frosches war die kleine Fliege.
Erst wenn es am Abend dunkel oder das Wetter zu schlecht wurde, trieb es den kleinen Frosch in sein Häuschen, das im tiefen Gras versteckt war.
Dort saß er nun, aß eine leckere Suppe und las in der Zeitung.
»Schau an. In der Stadt hat der neue Einkaufsladen schon nach wenigen Tagen wieder schließen müssen, weil durch ihn zu viel Müll entstanden ist. Das ist doch eine gute Nachricht. Es gibt nichts Schlimmeres als Müll, der überall auf den Straßen und in der Natur liegt.«, murmelte er vor sich hin.
Ein paar Zeilen tiefer war zu lesen, wer in der Stadt wieder für Ordnung gesorgt hatte. Es war eine Schnecke gewesen.
»Das ist ja sensationell. Eine Schnecke sorgt in allen Straßen für Ordnung. Das muss ja ziemlich lange gedauert haben. Da wäre selbst eine Schildkröte schneller gewesen.«
Der kleine Frosch wusste allerdings nicht, welche Tricks diese Schnecke beherrschte.
Irgendwann wurde er müde, ging ins Bett und schlief sofort ein.
Am nächsten Morgen kletterte die Sonne schon sehr früh den Himmel hinauf. Sie schickte ihre Strahlen über die Erde. Einer von ihnen bahnte sich seinen Weg durch dichtes Gras und machte auch vor einem verschlossenen Fenster nicht halt. Er drang in das Zimmer ein und beleuchtete das Gesicht des kleinen Frosches. Dieser wurde dadurch natürlich wach. Er rieb sich die Augen und hätte sich gern die Decke über den Kopf gezogen, um noch ein wenig schlafen zu können. Aber er tat es dann doch nicht.
»Es ist ein so sonnig schöner Tag. Es wäre eine Schande, jetzt noch im Bett liegen zu bleiben.«
Also zog er sich an, frühstückte ausgiebig und machte sich noch im Bad fertig, bevor er das Haus verließ. Kurz darauf kam er am Badesee an.
Der kleine Frosch wollte sich gerade seine Badehose im Gebüsch anziehen, als er etwas Ungewöhnliches entdeckte.
»Was ist denn das?«
Es lag ein runder Stein auf dem kleinen Steg, den der Frosch immer für sein Sonnenbad benutzte.
»Wer hat den denn dort abgelegt?«
Es war niemand zu sehen.
Er ging näher heran und wollte dieses Ding ins Wasser werfen, musste dann aber feststellen, dass er gar keinen Stein vor sich hatte, sondern eine Schnecke.
»Huch, wer bist du denn?«
»Ich bin Nino.«, kam die Antwort der Schnecke.
»Ich sitze schon eine ganze Stunde hier und überlege, wie ich ein Problem lösen kann. Aber mir fällt einfach nichts ein. Aber vielleicht kannst du mir helfen.«
Der kleine Frosch überlegte, aber es viel ihm nicht ein, was für ein Problem dieser Seebesucher haben konnte. Die Antwort darauf kam aber von allein.
»Weißt du, kleiner Frosch, ich habe gestern Abend ein Buch gelesen. Darin stand, dass vor langer Zeit Piraten an diesem See gelebt haben. Eines Tages kam ein Sturm auf, während sie mit ihrem Schiff unterwegs waren. Ein Blitz schlug in den Masten ein und die Piraten versanken. Ihr Schatz soll noch heute am Grund des Sees liegen. Ich würde zu gern einmal schauen, ob das alles wirklich stimmt. Aber ich kann leider nicht tauchen. Ich bin doch eine Landschnecke.«
Der kleine Frosch hatte eine Idee.
»Kannst du dich denn in dein Haus zurück ziehen und es ganz dicht verschließen?«
Nino nickte.
»Dann sollte das alles kein Problem sein. Du kriechst in dein Haus und ich tauche mit dir zusammen an den Grund des Sees, damit wir uns das alles anschauen können. Ich ziehe dich hinab und schaust aus deinem Fenster heraus.«
Die Schnecke freute sich über diese unerwartete Hilfe und zog sich zurück. Der kleine Frosch nahm sich das Haus unter den Arm und sprang damit ins Wasser.
Es ging abwärts. Immer weiter tauchten sie, bis sie am Grund des Sees ankamen. Dort unten war es so dunkel, dass man die Hand vor Augen nicht mehr sehen konnte. So würden sie den Schatz bestimmt nicht finden können. Aber Nino hatte eine Idee.
Er holte eine Lampe hervor, zündete sie an und stellte sie in das Fenster. Schon war der ganze See erleuchtet. Jede Pflanze, jeder Fisch und jeder Stein war nun zu sehen. Und siehe da, hinter einem Wald aus Schlingpflanzen war ein altes Schiffswrack. Es musste dort schon recht lange liegen, denn es war schon sehr verfallen und viele Algen wuchsen auf dem Holz.
Der kleine Frosch schwamm näher heran und begann zu suchen. Im Innern des Schiffs stand eine große Schatztruhe. Sofort machte er sich daran, sie zu öffnen, aber der Deckel blieb fest verschlossen.
Nino machte traurige Augen. Der Frosch zuckte aber nur mit den Schultern, nahm die Truhe an die linke Hand, das Schneckenhaus unter den rechten Arm und tauchte ein paar Sekunden später an der Oberfläche des Sees wieder auf. Dort stellte er die Schnecke vorsichtig auf den Steg zurück.
Nino kam sofort hervor und half, die schwere Truhe aus dem Wasser zu holen.
»Was machen wir denn jetzt? Wir bekommen den Deckel nicht auf. So finden wir nie heraus, was die Piraten darin versteckten.«, klagte der kleine Frosch.
Diesmal hatte Nino eine Idee. Er nahm sich einen festen Stock, steckte ihn durch das rostige Vorhängeschloss, rüttelte und schüttelte daran und brach es in zwei Teile. Nun konnten konnten sie den Deckel öffnen.
Vorsichtig sahen sie hinein, fanden aber zuerst nur ein paar alte Lumpen und Kleidungsstücke. Doch dann war da noch etwas anderes. In einer Ecke lag ein altes Buch. Es war groß, schwer und in teurem Leder eingebunden. Auf seinem Deckel stand:
Die schönsten Piratengeschichten.
»Ui!«, staunte der kleine Frosch.
»Da haben wir aber einen prima Fund gemacht. So ein Buch ist wirklich ein ganz besonderer Schatz.«
Nino war der gleichen Meinung.
Die beiden entschieden sich, den Rest des Tages im Haus des kleinen Frosches zu verbringen. Sie saßen vor dem knisternden Kamin und lasen sich gegenseitig spannende Geschichten vor und wurden dadurch zu dicken Freunden.
Sofie machte noch immer große Augen. Ich hatte das Gefühl, dass sie diese ausgedachte Geschichte glauben würde. Sie ist ja auch erst fünf und glaubt wirklich alles. Doch dann fing sie an zu lachen.
»Papa, das hast du dir doch ganz bestimmt nur ausgedacht. Ich glaube dir kein einziges Wort davon. Aber schön war die Geschichte trotzdem.«
Mir ging es ähnlich. Das konnte sich Onkel Lutz wirklich nur ausgedacht haben. Doch als ich mich umdrehte und zum Gartenteich blickte, sah ich, wie die Schnecke und der Frosch zusammen am Ufer saßen.
Mein Bericht ist jetzt zu Ende, denn nun helfen wir Onkel Lutz im Garten. Ich bin ja mal gespannt, was in dieser Woche sonst noch alles geschieht.
Deine Nina.
P.S.: Schade, dass du nicht hier sein kannst, denn Onkel Lutz kennt unglaublich viele tolle Geschichten.
(c) 2008, Marco Wittler
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