112. Die Töpferschnecke (Ninos Schneckengeschichten 8)

Die Töpferschnecke

Nino stand in seinem Flur vor dem Spiegel und rückte sich sein Haus auf dem Rücken zurecht. Moment mal, magst du jetzt bestimmt sagen wollen. Wie kann denn jemand ein ganzes Haus mit sich herum tragen? Und da hast du auch Recht. Das kann niemand, außer Nino, denn Nino war eine Schnecke.
Als er fertig war nahm er eine Leine vom Haken, band sie an das Halsband seines Hundes Wuschel und stieg auf sein Skateboard.
»Los geht’s Wuschel. Wir fahren in die Stadt.«
Der kleine Hund zog das Skateboard hinter sich her. Es ging durch die Haustür nach draußen und immer die Straße entlang, bis sie nach wenigen Minuten in der Stadt angelangt waren.
Vor wenigen Wochen hatte dort ein Einkaufsladen geschlossen, weil durch ihn sehr viel Müll hierher gekommen war. Nun stand der Laden leer. Niemand hatte sich bisher dafür interessiert.
Aber heute war das etwas anderes. Nino glaubte seinen Augen nicht zu trauen, denn vor der Eingangstür stand jemand. Es war eine Schneckenfrau.
»Hallo, wer bist denn du?«, fragte er neugierig.
»Ich bin Frau Schnecke.«, antwortete sie.
»Weißt du vielleicht, wem dieser Laden hier gehört? Ich würde hier gerne hier in der Stadt ein kleines Geschäft eröffnen, bin mir aber nicht sicher, ob ich das so einfach machen darf.«
Nino sah seinen kleinen Hund an und lächelte.
»Na, was meinst du Wuschel? Ob der Laden wohl noch vermietet wird?«
Frau Schnecke sah die beiden erwartungsvoll mit großen Augen an. Als Nino schließlich nickte wäre sie ihm am liebsten um den Hals gefallen. Aber das traute sie sich dann doch nicht.
»Eine Bedingung gibt es aber. Ihr Geschäft darf nicht so viel Müll produzieren. Das Problem sind wir gerade erst los geworden.«
»Versprochen!«, sagte sie und betrat das erste ihren neuen Laden, während Nino und Wuschel weiter ihres Weges zogen.

Ein paar Tage später kam Nino mit Wuschel am neuen Geschäft vorbei. In großen Buchstaben stand über der Tür zu lesen: Der Schneckenladen.
»Was meinst du, ob wir mal einen Blick durch das Schaufenster riskieren? Ich würde ja zu gern wissen, was dort drin verkauft wird.«
Nino rollte zum Laden und sah vorsichtig hinein.
»Huch, was ist denn das? Da ist ja gar nichts drin. Da stehen nur leere Regale. Das ist ja seltsam. Ob da wohl jemand eingebrochen ist und alles mitgenommen hat? Vielleicht sollten wir die Polizei rufen.«
Nino wollte sich schon zum Haus des Wachtmeisters ziehen lassen, als Wuschel ganz aufgeregt bellte.
»Was ist denn mit dir los? Hast du etwas entdeckt?«
Wuschel zog Nino hinter sich her, um den Laden herum, bis sie auf jemanden trafen. Frau Schnecke saß dort in einem kleinen Garten auf der Wiese und sah ganz traurig aus.
»Aber Frau Schnecke, was ist denn mit ihnen los? So traurig habe ich sie aber gar nicht in Erinnerung.«
Frau Schnecke holte schnell ein Taschentuch hervor und wischte sich die Tränen weg.
»Ach Nino, es ist alles so schrecklich. Ich träume schon mein ganzes Leben lang davon, ein eigenes Geschäft zu führen. Ich möchte jeden Tag hinter der Ladentheke stehen, eine Registriertkasse bedienen und den Leuten schöne Sachen verkaufen.«
Nino war etwas verwundert und kratzte sich an seinen Fühlern.
»Aber warum machen sie das denn dann nicht? Sie haben doch jetzt ein eigenes Geschäft.«
Schon wieder kullerten Frau Schnecke ein paar Tränen die Wangen herab.
»Aber das ist doch gerade das Problem. Ich weiß einfach nicht, was ich den Bewohnern der Stadt verkaufen soll? Für was interessieren die sich denn überhaupt?«
Da war auch Nino völlig überfragt. Er hatte sich nie darüber Gedanken gemacht.
»Das tut mir leid. Das weiß ich auch nicht. Aber vielleicht könnten wir ja gemeinsam heraus finden, was ihnen Spaß macht.«
Der Blick von Frau Schnecke erhellte sich sofort, denn bis zu diesem Augenblick hatte ihr noch niemand Hilfe angeboten. Sie verabredeten sich für den nächsten Morgen und verabschiedeten sich voneinander.

Noch bevor die Sonne aufging war Nino bereits auf dem Bein. Er war ziemlich aufgeregt und konnte es kaum erwarten, sich wieder mit Frau Schnecke zu treffen. Er hatte am Abend zuvor seine vielen Schränke, den Dachboden und den Keller durchsucht, um alles vorzubereiten, was ein neues Hobby werden könnte.
Es standen nun fünf große Tische auf Ninos Gartenterrasse bereit. Sie waren bis zum Rand mit unterschiedlichen Dingen voll gestellt.
Als die Uhr im Flur dann zehn Uhr schlug, klingelte es an der Tür. Nino öffnete sie und empfing Frau Schnecke.
»Guten Morgen. Ich hoffe, ich bin nicht zu spät dran. Als Schnecke hat man es in so langen Straßen nicht einfach.«
Nino konnte sich ein leichtes Grinsen nicht verkneifen.
»Das Problem hatte ich auch, als ich hierher zog. Im Winter bin ich sogar einmal vom Wetter überrascht und eingeschneit worden. Deswegen haben mir meine Freunde ein Skateboard und einen Hund geschenkt. Seitdem bin ich die schnellste Schnecke in der ganzen Stadt.«
Er reichte seinem Gast eine Hand.
»Aber nun genug von mir. Wir haben ja noch einiges vor.«
Er leitete Frau Schnecke in seinen Garten und präsentierte ihr seine vielen Vorschläge.
Den ganzen Tag bastelten, schnitten, klebten, schraubten malten sie gemeinsam. Aber irgendwie war nicht das richtige dabei. Alles machte auf die eine oder andere Weise Spaß, aber es war nicht genug, um damit ein Geschäft zu führen.
Ach, das ist so ungerecht. Ich weiß noch immer nicht, was ich mit meinem Laden anfangen soll.«, sagte Frau Schnecke, als die Sonne langsam unter ging.
Sie kroch durch den Garten und wusste nicht mehr, was sie noch ausprobieren sollte. Aus Wut nahm sie einen Klumpen Lehm aus dem Blumenbeet und klatschte ihn mit einem festen Wurf an die Hauswand.
Als sie sah, was sie angerichtet hatte, erschrak sie und entschuldigte sich sofort bei Nino. Der aber lachte, gesellte sich zu ihr und warf ebenfalls Lehm im hohen Bogen durch die Luft. Und so ging es eine ganze Weile weiter, bis der Ärger aus ihnen beiden heraus war und sie wieder gemeinsam lachen konnten.
»Das macht ja richtig Spaß. Ich hab schon gar nicht mehr daran geglaubt, dass ich überhaupt noch an irgendwas Spaß haben könnte.«, sagte Frau Schnecke.
Nino nahm noch einmal einen Klumpen in die Hand und dachte darüber nach, was er gerade gehört hatte.
»Wenn ihnen das so viel Spaß macht, warum machen sie denn nicht daraus ein Geschäft?«
Frau Schnecke sah ihn verwirrt an.
»Ich soll den Leuten Lehm verkaufen? Den hat doch schon jeder im Garten. Wer gibt denn dafür überhaupt Geld aus?«
Aber in Ninos Kopf war diese Idee nun drin und er überlegte eifrig, wie er damit einen ganzen Laden füllen konnte.
Die ganze Nacht saßen die Schnecken gemeinsam im Garten unter einer Lampe und bastelten und kneteten im und mit Lehm. Sie entdeckten, dass man ihn wunderbar formen konnte.
»Und wenn man ihn für eine Weile in den Ofen stellt, wird er richtig hart und fest. Dann kann man den Leuten der Stadt daraus Töpfe und Geschirr verkaufen. Vielleicht macht es ja auch Spaß ein paar kleine Schnecken und andere Tiere daraus zu basteln.«
Nun sprudelten die Ideen richtig heraus. Frau Schnecke hatte endlich gefunden, wonach sie so lange und verzweifelt gesucht hatte.
Als schließlich die Sonne aufging verabschiedete sie sich dankbar von Nino und bat ihn in drei Tagen zum Schneckenladen zu kommen.
Drei Tage später war es so weit. Wuschel zog Nino zum Laden. Dort staunten sie nicht schlecht. Über der Tür standen nun neue Buchstaben. ›Die Töpferschnecke‹ stand dort nun zu lesen.
»Na, wenn das keine gute Idee von Frau Schnecke war..«, sagte er zufrieden zu sich, während er mit einer großen Menge anderer Stadtbewohner das Geschäft betrat.

(c) 2008, Marco Wittler

19 - Die Töpferschnecke

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