111. Meine Farben sind verschwunden oder „Papa, warum hat der Kohlweißling weiße Flügel?“ (Papa erklärt die Welt 15)

Meine Farben sind verschwunden
oder ›Papa, warum hat der Kohlweißling weiße Flügel?‹

Sofie saß mitten auf einer großen Blumenwiese. Neben ihr saß Papa. Gemeinsam machten sie gerade ein Picknick mitten in der Natur und aßen leckeren Kartoffelsalat.
»Huch, was willst du denn auf meinem Teller? Dich will ich aber nicht essen. Husch, husch. Flieg schnell wieder weg.«
Ein kleiner Schmetterling mit weißen Flügeln hatte sich auf ihrem Teller niedergelassen. Als Sofie mit der Hand vorsichtig neben ihm hin und her wedelte flog er sofort davon.
»Was war das denn für ein komischer Schmetterling? Ich dachte immer die haben bunte Flügel.«
Papa musste grinsen. »Das ist ein Kohlweißling. Der hat halt weiße Flügel.«
Sofie grübelte ein wenig, bis sie schließlich eine Frage im Kopf hatte.
»Papa, warum hat der Kohlweißling eigentlich weiße Flügel?«
Papa hielt inne, kratzte sich am Kinn und dachte nach.
»Das ist eine gute Frage. Dazu fällt mir eine Geschichte ein, die ich erst kürzlich gehört habe. Sie handelt zufällig von einem Schmetterling mit weißen Flügeln. Und die werde ich dir jetzt erzählen.«
Sofie strahlte über das ganze Gesicht.
»Oh ja, eine Geschichte.«
»Und wie fängt eine Geschichte immer an?«, fragte Papa.
Sofie lachte schon voller Vorfreude und antwortete: »Ich weiß es. Sie beginnt mit den Worten ›Es war einmal‹.«
»Ja, das stimmt. Absolut richtig. Also, es war einmal …«

Es war einmal ein Schmetterling mit schönen bunten Flügeln. Sein Name war Balduin.
Balduin saß auf einer Blume und sah sich um. Über der ganzen Wiese flogen und tanzten unendlich viele Schmetterlinge miteinander. So viele bunte Farben konnte man sehen.
»Aber ich bin der Schönste von allen.«, sagte Balduin.
In diesem Moment kam seine Freundin Lisa vorbei geflogen. Lächelnd landete sie und fragte nach, ob sie gemeinsam tanzen könnten.
»Auf keinen Fall. Ich muss doch auf meine schönen Flügel acht geben. Sie könnten verwischen oder ich verliere sie unterwegs. Dann wäre ich doch nicht mehr der schönste Schmetterling, den es auf der großen weiten Welt gibt.«
Er drehte sich einmal im Kreis und besah sich seine Flügel in einem kleinen Spiegel.
»Schönheit pflegt man, auch wenn man dafür das eine oder andere Opfer bringen muss.«
Lisa nickte nur, flog davon und suchte sich einen anderen Tanzpartner, während Balduin weiter seine Farben ansah.
»Tanzen? So ein Quatsch. Die anderen denken gar nicht an ihr Aussehen.«

Am nächsten Morgen stand Balduin schon sehr früh auf. Kaum hatte der Hahn gekräht hüpfte er schon aus seinem Bett und begrüßte die Sonne, die gerade über den Horizont gekrochen kam und zum Himmel hinauf kletterte.
»Was für ein herrlicher Tag. Und die beiden schönsten Dinge dieser Welt sind schon wach, um alle anderen Bewohner unserer Blumenwiese mit ihrer Schönheit zu erfreuen. Nur die Sonne kann es mit meinen Flügeln aufnehmen.«
Er tapste in sein Badezimmer, wusch sich zuerst das Gesicht, dann die Zähne und zum Schluss sprang er noch einmal unter die Dusche, nur im sicher zu gehen, dass seine Farben auch wirklich strahlend schön aussehen würden.
Als Balduin allerdings das erste Mal vor den Spiegel trat, um sich seine Haare zu bürsten, bekam er einen riesigen Schrecken.
»Ach du meine Güte. Was ist denn mit mir passiert? Wo sind denn meine Farben geblieben?«
Das Bild im Spiegel zeigte wie an jedem Tag einen Schmetterling. Allerdings waren seine Flügel heute nicht mehr so bunt wieder der Regenbogen, sondern weiß wie der Schnee im Winter.
»Mein Farben sind weg. Irgendwer hat meine Farben gestohlen. Was mache ich denn jetzt?«
Balduin war völlig verzweifelt. Ohne seine schönen Farben konnte er sich doch nirgendwo auf der Blumenwiese sehen lassen. Die anderen Schmetterlinge würden ihn sofort auslachen. Also lies er den Kopf hängen und verkroch sich wieder unter seiner Bettdecke.
»Ich werde nie wieder hier heraus kommen. Ich bleibe für den Rest meines Lebens in meinem Bett und will niemanden mehr sehen.«

Zur gleichen Zeit flog Lisa über die schöne Blumenwiese und hielt Ausschau. Sie hoffte Balduin zu treffen.
»Vielleicht tanzt er ja heute einmal mit mir. Er weiß gar nicht, was er verpasst, wenn er immer nur auf seine schönen Flügel starrt.«
Allerdings konnte sie ihn nirgendwo finden.
»Das ist ja wirklich sehr seltsam.«, sagte sie sich. »Sonst ist er doch immer draußen und lässt seine Schönheit bestaunen, wenn die Sonne scheint. Das stimmt doch etwas nicht.«
Lisa entschloss sich sofort, nach Balduin zu suchen. Sie wollte unbedingt heraus finden, was geschehen war.
Als sie schließlich an seine Tür klopfte, hörte sie nur leises Gemurmel.
»He, Balduin, was ist denn mit dir los? Stimmt etwas nicht?«
»Geh weg.«, ertönte es von innen.
»Ich will dich nicht sehen. Ich will niemanden sehen. Und mich will erst recht niemand mehr sehen.«
Lisa wusste nicht, was er damit meinte und klopfte erneut an die Tür.
»Lass mich doch bitte rein. Ich bin doch deine Freundin und werde dich nicht auslachen, egal was passiert ist.«
Sie warte und wartete. Ganz geduldig setzte sie sich vor die Tür und hoffte, dass ihr geöffnet werden würde.
Balduin lag noch immer in seinem Bett und war sauer, dass er seine Ruhe nicht bekam. Er wollte mit niemandem reden und sehen sollte auch niemand, was ihm widerfahren war. Aber dieses dumme Mädchen vor der Tür, so dachte er sich, würde nie verschwinden, wenn er nichts unternehmen würde.
Zuerst dachte er darüber nach, ob er aus einem seiner Fenster einen Eimer mit kaltem Wasser kippen sollte, aber das erschien ihm dann doch viel zu fies. Da ihm aber nichts besseres einfiel, öffnete er schließlich die Tür und lies Lisa herein.
»Aber bitte sie mich nicht an. Ich bin über Nacht zum hässlichsten Wesen der Welt geworden.«
Aber Lisa dachte gar nicht daran, weg zu schauen. Sie kam mit geschlossenen Augen herein, öffnete sie aber sofort, nachdem die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war.
»Deine Flügel sind ja weiß wie Schnee.«
Balduin begann zu weinen. Die Tränen kullerten nacheinander an seinen Wangen herab.
»Ich bin so hässlich. Mit mir wird niemand mehr reden wollen und alle werden über mich lachen.«
Lisa nahm ihn in den Arm und drückte ihn an sich.
»Ach du dummer, kleiner Schmetterling. Was sind denn schon ein paar Farben? Du bist und bleibst einer von uns. Und wenn ich ehrlich sein soll, gefällst du mir noch viel mehr als gestern. Denn da warst du einer von vielen bunten Schmetterlingen, aber heute bist du der einzige, der weiße Flügel besitzt. So etwas habe ich noch nie zuvor gesehen.«
»Meinst du das auch wirklich so?«, fragte Balduin ängstlich.
Lisa nickte und nahm ihn an der Hand.
»Los, lass und nach draußen gehen. Wir fliegen um die Wette und tanzen so wild wie niemand anders. Und ich verspreche dir, dass dich alle um deine weißen Flügel beneiden werden.«
Balduin war sich noch immer nicht sicher, lies sich aber dennoch überreden. Gemeinsam, Hand in Hand, traten sie vor die Tür und flogen im hohen Bogen über die Wiese.
Als die anderen Schmetterlinge sie sahen, waren sie völlig verwundert. Ein weißer Schmetterling? So etwas unglaublich Schönes hatte es auf der ganzen Blumenwiese noch nie gegeben. Sie alle bewunderten und beneideten ihn um seine Flügel.
Balduin aber hatte etwas gelernt. Es kam seiner Freundin Lisa nicht auf die Schönheit der Flügel an. Sie war einfach nur seine Freundin und mochte ihn, weil er ein wirklich netter Kerl war.
Nun flogen und tanzten sie jeden Tag miteinander, vom frühen Morgen bis zum Sonnenuntergang.

Sofie gluckste vor Vergnügen.
»Das war aber eine schöne Geschichte. Ich hätte nicht gedacht, dass der kleine Schmetterling sich an seine neuen Flügel gewöhnt.«
Aber nickte zufrieden und nahm sich einen weiteren Teller Kartoffelsalat.
»Aber trotzdem glaube ich dir kein einziges Wort davon.«
Sofie lachte und fiel Papa um den Hals.

(c) 2008, Marco Wittler

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