Der weiße Elch
Die Elchdame Frieda war etwas betrübt. In der letzten Nacht hatte sie nach vielen Jahren des Wartens endlich Nachwuchs bekommen. Es gab ein neues Elchbaby in der Herde. Doch war es leider kein normales Junges geworden, wie all die anderen, die in diesen Tagen geboren wurden. Erich, so hatte sie ihren Sohn genannt, war anders. Er sah sogar anders aus. Im Gegensatz zum dunkelbraunen Fell aller Elche war er ganz weiß und hatte rote Augen.
Das Entsetzen unter den anderen Müttern war groß. Dieses kleine, fellige Etwas konnte doch unmöglich ein richtiger Elch sein. Der konnte gar nicht zur Herde gehören, denn er war viel zu anders.
Frieda wurde darüber natürlich sehr traurig. Sie hatte sich immer ein Junges gewünscht. Und nun, da sie eines hatte, war sie dem Spott aller anderen ausgesetzt. Und doch verspürte sie ganz viel Liebe für das kleine weiße Etwas. Sie gab ihm den Namen Erich.
In den nächsten Jahren wuchs Erich ebenso heran, wie alle anderen Elchkinder auch. Sie besuchten zusammen den Kindergarten und die Schule. Doch gemeinsam spielen oder zusammen etwas unternehmen taten nur die braunen Elche. ‘Der Weiße’, wie sie Erich nannten, durfte nie dabei sein. Er ist viel zu anders. So einen können wir doch nicht gebrauchen, sagten sich die normalen Kinder dann immer. Deswegen blieb Erich immer alleine.
Die meiste Zeit verbrauchte er damit, alleine im Wald spazieren zu gehen. Er erkundete die ganze Gegend und war mit fast jedem Strauch, Busch und Baum per du. Er kannte sich richtig gut aus. Und wenn ihm selbst das zu langweilig wurde, beobachtete er die anderen Kinder beim Spielen.
Oft hatte er darüber nachgedacht, dass er sie hassen müsste, weil sie ihn nicht leiden konnten und wie jemanden behandelten, der ein anderes Wesen war, dabei hatte sein Fell doch nur eine andere Farbe. Aber er konnte sie nicht hassen. Sie waren einfach so von ihren Müttern erzogen worden. Sie konnten nichts dafür, dass sie seine guten Eigenschaften übersahen. Sie wussten nicht einmal, was für ein guter Kerl er war und was er alles konnte und wusste. Aber vielleicht würde ihnen eines Tages ein Licht aufgehen. Doch bis dahin hieß es, tapfer alles über sich ergehen lassen und abwarten.
Die Zeit verging und der Sommer auch. Auf den Herbst folgte recht schnell der Winter, denn in Norwegen und Schweden, wo die Elche leben, sind die Winter lang, kalt, und dunkel.
Der erste Schnee fiel und bedeckte den Boden, die Bäume und die Sträucher. Es wurde langsam Zeit, dass die Elchherde sich auf den Weg in ihr Winterlager im Süden machte, wo es etwas wärmer war und mehr zu Fressen gab. Und so setzten sich alle Tiere in Bewegung.
Erich war der Letzte in dieser großen Gruppe dahin ziehender Tiere. Er durfte nur ganz hinten gehen, damit sich die anderen Elche nicht von seinem Anblick belästigt fühlen mussten, denn hinten hatten sie ja keine Augen. Aber das machte ihm nichts aus. Am Schluss der Herde hatte er seine Ruhe und konnte sich die Umgebung und den Wald anschauen und sich alles einprägen.
So ging es einige Tage, immer weiter auf dem Weg Richtung Süden.
Doch dann passierte etwas Schreckliches. Als die Herde eine enge Stelle mitten im Wald passierte, zwischen nicht so hohen, aber steilen Felshängen, sahen sie sich plötzlich einem Rudel Wölfe gegenüber. Es waren sechs an der Zahl und sie hatten großen Hunger.
Vor Angst wussten die Elche nicht, was sie tun sollten und bewegten sich erst einmal nicht von der Stelle. Sie hofften, dass ihr Anführer endlich ein Signal gab, in welche Richtung sie weglaufen konnten, doch dieser zitterte so sehr vor Angst, dass er nicht mehr klar denken konnte. Sie saßen in der Falle.
Als dann doch jemand auf die Idee kam, zurück zu laufen, in die Richtung aus der sie gekommen waren, war es bereits zu spät, denn weitere sechs Wölfe hatten sich von hinten angeschlichen und so war die gesamte Herde eingekreist. Sie konnten nun nicht mehr flüchten.
Es gab nur einen einzigen Elch, der entkommen war. Und das war Erich. Er hatte schon früher bei seinen Wanderungen durch den Wald heimlich Wölfe beobachtet und wusste genau, dass sie die Herde einkreisen würden. Deswegen hatte er sich sofort weggeschlichen und sich im Schnee versteckt. Jetzt endlich war ihm sein weißes einmal zu etwas nütze.
Nachdem er sicher war, dass sich die Wölfe auf die Herde konzentrierten, schlich er etwas weiter in den Wald und überlegte, was er tun konnte, um die anderen zu retten. Sie waren zwar nie nett zu ihm gewesen, aber wenn die Wölfe sie alle töten würden, wäre er ganz alleine. Dieser Gedanke gefiel ihm gar nicht, deswegen musste er unbedingt etwas unternehmen.
Dann hatte er die rettende Idee. Er musste es nur rechtzeitig schaffen. Er schlich sich etwas weiter einen Hügel hinauf. Ganz nah lief er an den Wölfen vorbei. Wegen seines Felles konnten sie ihn ja nicht sehen. Durch seinen Geruch wurde Erich auch nicht verraten, denn so nah an seiner Herde roch es überall nach Elch.
Oben angekommen begann er mit seinen Hufen und seinem Geweih eine Schneekugel zu formen. Je länger er sie über den Boden rollte, desto mehr Schnee pappte an ihr fest und umso größer wurde sie. Dann machte er weitere, bis er schließlich vier Kugeln vor sich hatte, jeweils einen Meter hoch.
Ein Blick nach unten verriet ihm, dass die Wölfe noch immer nicht angegriffen hatten. Offensichtlich hatten sie sich noch nicht für ein Opfer entscheiden können oder hatten zuviel Bedenken, dass eine so große Herde sich doch zu gut zur Wehr setzen könnte.
Erich entschied, dass nun ein perfekter Zeitpunkt war. Zu beiden Wolfrudeln führte ein Waldweg hinab, kein Baum versperrte den Weg. Und genau in diese Richtung stieß er nun die Kugel, jeweils zwei in eine Richtung.
Direkt danach ließ er ein lautes Elchröhren los und brüllte was das Zeug hielt. „Achtung, Lawine!“, rief er hinterher.
Die Wölfe schreckten hoch durch den Lärm, was war da nur? Sie schauten die Wege hinauf und sahen mit großem Entsetzen die Schneekugeln auf sich zurollen, die mit jedem Meter mehr Schnee anpappten und größer wurden. Bis zu den Eingängen des Durchganges würden sie bereits so groß sein, dass sie alles und jeden unter sich begraben würden, was ihnen im Weg war.
Die Wölfe jaulten laut auf. Auf der einen Seite wollten sie unbedingt ein paar Elche zum Fressen haben, auf der anderen hatten sie aber Angst um ihr leben.
Von der Spitze des Hügels hörten sie wieder das laute Röhren des Elches. Und schlimmer noch, sie sahen rote Augen auf sich herab glühen. Sie wussten ja nicht, dass Erich von Natur aus rote Augen hatte. Deswegen hielten sie ihn für einen bösen Elchgeist.
Also siegte in diesem Fall doch ihre Angst und sie jagten schnell davon in die tiefen dunklen Wälder, wo sie sich in Sicherheit fühlten und wagten sich nie wieder an diese Herde heran.
Als Erich langsam den Hügel herab kam, sah die Herde erstaunt, wer sie dort gerettet hatte. Sie hatten damit gerechnet, dass es ein alter erfahrener Elch gewesen war. Aber stattdessen war es ‘Der Weiße’ gewesen.
Alle sahen etwas beschämt drein. Schließlich hatte Erich sie gerettet, obwohl sie selber bisher nur Spott und Hohn für ihn übrig gehabt hatten. Doch nun würde alles anders werden, den nun feierten die Helden den ‘Weißen Helden’.
Kurz darauf verbreitete sich im ganzen Land die Geschichte vom weißen Elch, der ein großes Wolfsrudel in die Flucht geschlagen hatte. Und nun schauten alle Wölfe, bevor sie diese großen Tiere angriffen, ob sich vielleicht ein weißes Exemplar unter ihnen aufhielt. War das der Fall, so zogen sie sich unauffällig zurück und warteten auf andere Beute.
(c) 2004, Marco Wittler
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