Der Zauberhut (Teil 1)
»Nein, du bekommst kein weiteres Stück Schokoladenkuchen. Du hast jetzt schon fünf Stück davon verschlungen. Mehr gibt es nicht. Du wirst sonst irgendwann dick und rund und kannst dich nicht mehr von alleine bewegen.«
Andreas sah seine Mutter traurig an. Aber sie blieb hart und gab ihm nicht nach.
»Aber Mutter, was schadet es denn, wenn ich nur heute etwas mehr esse?«
Nur heute? Das hast du gestern und vorgestern auch schon gesagt. Morgen, Übermorgen und alle anderen Tage werde ich nichts anderes von dir zu hören bekommen als ›Nur heute‹. Jetzt ist Schluss damit. Wenn du mehr essen willst, dann arbeite auch dafür.«
Andreas war sauer. Essen war halt seine Lieblingsbeschäftigung. Und es schmeckte halt alles so unheimlich gut, dass er einfach nicht genug bekommen konnte.
»Warte nur ab, bis dein Vater nach Hause kommt. Er wird dir schon zeigen, wo es lang geht. Der lässt dir das nicht so einfach durchgehen, wie ich.«
Als die Sonne langsam unterging und den Himmel rot färbte, kam der Vater nach Hause. Er hatte einen langen und schweren Tag hinter sich gebracht. Von früh bis spät stand er auf dem Feld, sähte, pflügte, erntete und fuhr dann zum Markt, um den Stadtbewohnern Obst und Gemüse zu verkaufen. Doch das Geld reichte so gerade eben, um genug Essen für die Familie kaufen und die hohen Steuern des Königreichs bezahlen zu können.
Als er sich an den Tisch setzte, das Abendessen in sich hinein stopfte, hörte er seiner Frau zu, wie sie ihm erzählte, welch ein Nichtsnutz ihr gemeinsamer Sohn war.
»Der Junge wird uns noch einmal ins Unglück stürzen. Sieh ihn dir doch einmal an. Schon jetzt ist er dick und rund. Und wir zwei sind dürr und mager. Man könnte meinen, er wäre nicht unser Sohn, sondern der reicher und wohlhabender Eltern. Er wird uns die Haare vom Kopf weg fressen, wenn wir nicht aufpassen, glaub es mir.«
Der Vater hörte geduldig zu, sagte aber nichts. In den vielen Jahren hatte er gelernt, dass es nicht brachte, seine Frau zu unterbrechen.
Darum nahm er seinen Sohn beiseite und ging mit ihm nach dem Abendessen vor die Tür und setzte sich mit ihm auf eine Bank.
»Nun, mein Sohn. Ich glaube, es wird langsam Zeit für dich, dass du in die Welt hinaus gehst, um dein Glück zu suchen und zu finden. Es wird Zeit, dass du einen ehrbaren Beruf erlernst, um eines Tages als gemachter Mann hierher zurück zu kehren.«
Andreas war erschrocken.
»Ich soll euch verlassen, Vater? Aber was soll denn in der Fremde aus mir werden? Ich habe doch nur euch. Wer wird sich dort um mich kümmern und mir genug zu essen geben? Ich bin doch völlig hilflos und noch viel zu jung, um von euch zu gehen.«
Er wand sich hin und her, suchte nach Ausreden und Gründen, um nicht fort gehen zu müssen. Aber der Vater dachte nur an den Ärger, den er mit seiner Frau bekommen würde, wenn der Sohn nicht bald das Haus verlassen würde.
»Es ist, wie es ist. Und alle jungen Männer verlassen bei Zeiten ihre Familien. Die meisten Burschen in deinem Alter sind bereits fort gegangen. Du bist einer der Letzten. Darum musst auch du nun deinen eigenen Weg finden. Packe deine Sachen zusammen und geh hinaus in die Welt.«
Es half kein Betteln und kein Flehen. Es war beschlossene Sache, dass die Eltern von nun an allein leben wollten.
Die Mutter hatte das ganze Gespräch durch ein Fenster belauscht. Sie hatte schon im Voraus darauf bestanden, dass der Vater den Sohn weg schicken sollte. Sie duldete keine Ausreden und nichts. Sie wollte den Jungen nicht mehr durchfüttern müssen. Er sollte sich Arbeit suchen und eigenes Geld verdienen, um endlich zu verstehen, dass es nicht auf Bäumen wächst, es einem niemand schenkt und das Leben sehr teuer war.
Nun rieb sie sich die Hände. Sie hatte endlich gewonnen und war den Sohn bald los.
Daher holte sie einen Beutel aus dem Schrank, packte, die nötigsten Dinge hinein, band ihn an das Ende eines Stocks, und stellte alles neben die Haustür.
Als Andreas in die Stube kam, hielt sie ihn am Arm fest.
»Du brauchst gar nicht mehr herein kommen. Ich habe bereits alles für vorbereitet. Alles, was du brauchst, findest du in diesem Beutel. Also verlass nun unser Haus und lebe wohl.«
Zum Zeichen, dass sie es ernst meinte, winkte sie ihm ins Gesicht und schob ihn dann aus dem Haus.
»Such dir irgendeine Richtung aus und marschiere los. Du wirst schon eine neue Bleibe und einen Meister, der dich ausbildet, finden. Und vielleicht wird in der Zeit dein Bauch und dein Hunger endlich kleiner.«
Sie zog den Vater an seiner Jacke ins Haus und schloss die Tür hinter sich.
Nun war Andreas auf sich allein gestellt. Die weite Welt lag vor ihm und sie war bereit, ihn in ihre Arme zu nehmen. Doch wohin würde es ihn bringen?
Er drehte sich zweimal im Kreis und entschied sich dann spontan, nach Süden zu marschieren.
Allerdings kam er nicht sehr weit, denn die Sonne verschwand schon bald hinter dem Horizont, der Mond stieg zum Himmel empor, die Sterne glitzerten auf und die Nacht brach herein.
Andreas machte es sich am nahen Waldrand an einem Baum gemütlich und wickelte sich fest in seine Jacke ein.
»Ich hoffe nur, dass ich wirklich ein neues Heim finde und ein glückliches Leben führen kann.«
Dann schlief er ein und träumte von einem großen leckeren Spanferkel, welches über einem Lagerfeuer schmorte.
Am nächsten Morgen wurde Andreas von den zwitschernden Vögeln geweckt. Er stand auf, reckte und streckte sich und setzte seinen Weg fort.
Er kam allerdings nicht weit, als er großen Hunger bekam. Der Traum der letzten Nacht hatte sehr dazu beigetragen, denn letzte Erinnerungen an das Spanferkel spukten noch immer in seinem Kopf herum.
»Oh ja, ein Spanferkel wäre eine feine Sache. Ich könnte glatt ein ganzes allein aufessen.«
Aber es war nichts zu essen da, bis auf ein paar wenige Beeren, die am Wegesrand wuchsen.
»Wie soll denn davon ein richtiger Mann nur satt werden? Ich brauche wirklich schnell richtige Arbeit, sonst werde ich noch verhungern. Aber wo soll ich hin?«
Er wanderte kreuz und quer durch den Wald. Lief mal den einen, mal den anderen Weg entlang. An Kreuzungen nahm er die Richtung, die an bequemsten zu Laufen aussah.
Ich weiß ja eh nicht, wohin ich gehen soll. Warum soll ich dann genauer überlegen, welchen Weg ich nehme?«
Am Abend verließ er wieder den Wald und sah in der Ferne eine kleine Stadt. Die Lichter brannten bereits und lockten ihn an.
»Ob ich am Ziel meiner Reise angekommen bin?«
Andreas, vom Hunger getrieben, lief schnell einen Abhang hinab und betrat kurz darauf das erste Wirtshaus, das er fand. Dort bestellte er einen großen Teller Eintopf, einen großen Laib frisches Brot und einem Krug Wein.
»Lasst es euch schmecken, junger Herr. Ich seht ziemlich hungrig aus.«
Andreas konnte nicht einmal mehr antworten, so schnell hatte er die Speisen in seinen großen Mund gestopft. Daher dauerte es auch nicht lange, bis alles aufgegessen war.
Als der Wirt schließlich mit der Rechnung kam, holte Andreas sein Säckel hervor und öffnete es. Aber es war kein Geld darin, sondern nur alte Lumpen und ein paar Steine.
»Man muss mich im Wald bestohlen haben, als ich geschlafen habe. Bis gestern waren noch ein paar Münzen darin. Glauben sie mir, ich sage die reine Wahrheit.«
Der Wirt wurde rot im Gesicht, ging in einen Seitenraum und kam mit einem großen Knüppel zurück.
»Dir werde ich zeigen, dass man mich nicht betrügt. In meinem Wirtshaus hat noch niemand die Zeche geprellt. Und dir wirst mit Sicherheit nicht der Erste werden.«
Andreas sprang auf, packte seine Sachen und wollte die Flucht ergreifen. Aber die Wirtsfrau versperrte ihm den Weg. Der Wirt selber kam auf ihn zu, hob den Knüppel hoch über seinen Kopf und wollte gerade zuschlagen, als sich eine Hand auf seine Schulter legte.
»Wer zum Teufel, …«
Weiter kam er nicht. Als er sich umdrehte sah er sich einem alten Mann in einem langen Umhang gegenüber, der ihm ein paar Münzen vor die Nase hielt.
»Ich glaube, dass es reichen sollte, die Rechnung des jungen Mannes zu bezahlen.«
Er lies das Geld fallen und stieg dann über den Wirt und seine Frau hinweg, die sich sofort auf die Münzen stürzten.
»Und nun lass uns gegen, Andreas. Ich habe noch einiges mit dir vor. Folge mir zu meinem Haus.«
Andreas gehorchte. In seinem Inneren bohrte ihn die Frage, woher der Alte seinen Namen wusste, aber dennoch traute er sich nicht danach zu fragen.
(c) 2007, Marco Wittler
Teil 2 findest du hier.
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