Der Stau
Hallo Steffi.
Du kannst dir gar nicht vorstellen, was ich gestern erlebt habe. Es ist so unglaublich, dass ich es eigentlich selbst noch nicht richtig fassen kann.
Wir sind gestern über das Wochenende zu Oma gefahren. Dieses Mal hatte ich mir vorgenommen, nicht wieder im Auto einzuschlafen. Ich wollte mich nicht schon wieder von den anderen veräppeln lassen. Doch gestern wäre es eigentlich gar nicht so schlimm gewesen, denn dann hätte ich den Stau verschlafen und mir wäre nicht langweilig geworden.
Wir sind doch tatsächlich nur ein paar wenige Kilometer weit gekommen, bis wir wegen des Verkehrs auf der Autobahn anhalten mussten. Es ging einfach nicht mehr weiter und zurück darf man leider auch nicht, sonst ist man ein Geisterfahrer.
Ein paar Minuten später meldete der Mann in Radio, dass die Autobahn für die nächsten drei Stunden komplett gesperrt wäre und wir so lange durchhalten sollten.
Puh, du kannst dir bestimmt vorstellen, wie mir das gefallen hatte. Schließlich saß ich ja nicht allein im Auto, sondern musste meinen kleinen Bruder Tommi neben mir ertragen. Das war absolut ungerecht.
Wir mussten im Auto sitzen, in den engen Kindersitzen, während draußen die Sonne schien und es sehr warm war. Am liebsten wäre ich ausgestiegen, um ein wenig zu spielen.
Irgendwann wurde es wohl auch Papa langweilig, denn er öffnete plötzlich seine Tür und stieg aus.
»Es geht doch eh nicht weiter. Da können wir uns ruhig ein wenig die Füße vertreten.«, sagte er.
Wir mussten ihm nur versprechen, nicht zwischen den vielen Autos herum zu laufen und in Sichtweite zu bleiben.
Tommi hatte keine Lust. Er hatte ein Bilderbuch in der Hand und war damit zufrieden. Was für ein Glück. So hatte ich meine Ruhe vor ihm und musste nicht noch auf ihn aufpassen.
Ich öffnete den Anschnallgurt, öffnete vorsichtig die Tür und stieg ebenfalls aus.
Es war schon ein ziemlich komisches Gefühl, auf einer Autobahn herum zu laufen. Wer hat denn schon mal so eine Gelegenheit. Normalerweise rasen hier doch nur die Autos hin und her. In die andere Richtung taten sie es auch weiterhin. Also hielt ich mich davon fern und ging zum Straßenrand.
Direkt hinter der Leitplanke war ein Wald.
»Darf ich da mal rein schauen?«, fragte ich Papa.
Er erlaubte es mir, bat mich aber darum, nicht zu weit weg zu gehen. Ich nickte natürlich eifrig und kletterte von der Straße in die Natur.
Die Bäume und Büsche standen ziemlich dicht beieinander. Es war gar nicht so einfach, einen Weg da durch zu finden. Aber nach und nach kam ich weiter vorwärts.
Alle paar Meter drehte ich mich um und rief Papa, ob er mich noch hören konnte, denn so lange ich noch eine Antwort bekam, konnte ich weiter gehen.
Doch dann machte ich einen unvorsichtigen Schritt. Hinter einem Busch stolperte ich und rutschte einen Abhang herab.
Als ich unten angekommen war, sah ich mich erst einmal um. Vor mir war eine kleine Lichtung. Keiner der Bäume hatte sich dort hin getraut. Zwischen ihnen war nur eine Blumenwiese.
Würden wir nicht auf der Autobahn stehen, hätten wir hier ein wunderschönes Picknick machen können.
Da fielen mir die anderen wieder ein. Ich rief erneut nach Papa, bekam dieses Mal aber keine Antwort. Ich war zu weit weg.
Also kletterte ich vorsichtig den Abhang wieder hinauf. Doch da hörte ich ein Geräusch. Ein Summen und Surren lag in der Luft. Aus Angst, dass mich einen Bienenschwarm angreifen würde, lies ich mich wieder zur Lichtung hinab und sah mich um, konnte aber kein einziges Insekt sehen.
Dafür entdeckte ich etwas ganz anderes. In der Mitte der Lichtung leuchtete etwas. Ich ging langsam darauf zu und stellte fest, dass es aus einer Blume kam.
Vorsichtig öffnete ich die einzelnen Blütenblätter und rechnete mit einer kleinen Lampe oder einem Glühwürmchen. Aber es war keines von beiden. Denn in diesem Moment flog etwas vor mein Gesicht. Es war eine kleine Frau mit Schmetterlingsflügeln auf dem Rücken.
Sofort erinnerte ich mich an die vielen Geschichten, die mir Opa immer erzählt hatte. Dieses kleine Wesen sah tatsächlich aus wie eine …
»Bist du eine Elfe?«, fragte ich schließlich.
»Ob ich eine Elfe bin?«, antwortete sie mir. »Ich bin sogar die Königin aller Elfen. Und du hast mich befreit.«
Sie erzählte mir, dass sie schon seit vielen Jahrhunderten in der Blüte dieser Blume gefangen gewesen war. Ein böser Zauberer hatte ihr eine Falle gestellt und sie eingesperrt.
»Der Zauberer ist wohl schon lange tot. Aber trotzdem kam weder Mensch noch Elf hier her, um mich zu befreien.«
Wir freuten uns gemeinsam über diesen großen Glücksfall.
»Dann kannst du ja endlich zu deinem Volk zurück kehren.«, schlug ich vor.
Doch da war die gute Laune der Königin schon wieder verflogen.
»Ich weiß leider nicht den Weg. Wir müssen nach einem Loch in einem großen Baum suchen.«
Sofort lief ich im Kreis um die Lichtung. Es ging hin und her und von Baum zu Baum, bis ich schließlich ein großes Loch hinter einem Busch entdeckte.
Die Königin flog hinein und bat mich, hier zu warten. Denn schon nach ein paar Minuten kam sie mit weiteren Elfen zurück.
»Wir werden dich auf unseren Händen zurück tragen. Und dort werden wir dich für deine Rettungstat belohnen.«
Vorsichtig griffen sie unter meine Arme und Beine und flogen schließlich mit mir gemeinsam in Richtung Autobahn.
Von oben aus konnte ich die vielen Autos sehen. Noch immer standen sie im Stau und es ging nicht weiter.
Hinter dem letzten Busch vor der Leitplanke landeten wir. Die Königin griff in einen Beutel und holte eine kleine Blume hervor.
»Pass auf diese kleine Blume gut auf, denn sie ist etwas ganz besonderes. Aber welches Geheimnis in ihr steckt, kann ich dir nicht sagen. Das wird sie nur dir verraten.«
Sie steckte die Blume zurück und drückte mir den Beutel in die Hand.
Dann verabschiedeten wir uns voneinander und ich kletterte zurück auf die Straße, wo die anderen schon auf mich warteten.
»Da bist du ja wieder.«, sagte Papa.
»Steig am Besten gleich ein. Der Mann im Radio hat gesagt, dass es bald weiter gehen wird.«
Also setzte ich mich wieder in meinen Kindersitz, schnallte mich an und erzählte Tommi kein einziges Wort von meinem Erlebnis.
Bis bald,
deine Nina.
P.S.: Nun liege ich in meinem Bett bei Oma, schreibe diesen Brief an dich. Noch immer kenne ich das Geheimnis der kleinen Blume nicht. Aber bis wir das nächste Mal voneinander hören, weiß ich mehr. Versprochen.
(c) 2008, Marco Wittler
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