090. Riesen Angst im Dunkeln oder „Papa, warum leuchtet eine Glühbirne?“ (Papa erklärt die Welt 7)

Riesen Angst im Dunkeln
oder ›Papa, warum leuchtet eine Glühbirne?‹

Sofie ging mit Papa zusammen in den Keller. Normalerweise traute sie sich nicht dort hin, aber zu zweit war das etwas anderes.
Papa schaltete die Lampe an und ging voraus. Sofie besah sich das und dachte nach.
»Du, Papa, warum leuchtet eigentlich eine Glühbirne?«
Papa blieb stehen, kratzte sich am Kinn und dachte nach.
»Das ist eine gute Frage. Dazu fällt mir eine Geschichte ein. Sie handelt von einem Riesen. Und die werde ich dir jetzt erzählen.«
Sofie strahlte über das ganze Gesicht.
»Oh ja, eine Geschichte.«
»Und wie fängt eine Geschichte immer an?«, fragte Papa.
Sofie lachte schon voller Vorfreude und antwortete: »Ich weiß es. Sie beginnt mit den Worten ›Es war einmal‹.«
»Ja, das stimmt. Absolut richtig. Also, es war einmal …«

Es war einmal ein großer Riese mit Namen Argan. Er lebte von früh bis spät in den Tag hinein und war faul. Alle anstrengenden Arbeiten lies er von den kleinen Menschen erledigen, die er sich vor langer Zeit gefangen hatte.
Argan war ein böser Riese und er beschimpfte und bestrafte seine Gefangenen so oft wie möglich. Und so taten die Menschen immer das, was er von ihnen verlangte.
Groß, fett und faul war er in der langen Zeit geworden. So sah er noch schrecklicher aus, als es Riesen eh schon sind.
Doch abends, wenn die Sonne langsam hinter dem Horizont verschwand und das Licht der Dunkelheit wich, veränderte sich Argan. Denn er hatte riesige Angst im Dunkeln. Sobald er nichts mehr sehen konnte, lief ihm kalter Schweiß den Rücken herab und er sah in jeder Ecke ein böses Monster, das ihn fressen wollte.
Damit er nicht ohne Licht schlafen musste, nahm er seine versklavten Menschen und drückte jedem von ihnen eine Lampe in die Hand. Danach holte er eine große Kiste mit Glühbirnen aus dem Schrank, schraubte sie auf und steckte die Menschen hinein. So waren in der ganzen Nacht alle Räume seine Hauses hell erleuchtet. Nur so konnte Argan ruhig schlafen.
Den Menschen gefiel das natürlich gar nicht. Tagsüber ackerten sie in den Gärten des Riesen und in der Nacht mussten sie in einer engen Glühbirne bei hellem Licht schlafen. Daher waren sie nie ausgeschlafen. Sie konnten ihre Aufgaben nicht richtig erledigen und es passierten immer wieder Unfälle, weil sie einfach während der Arbeit einschliefen.
Aber sie konnten sich nicht wehren. Kleine Menschen hatten gegen einen Riesen keine Chance. So nahmen sie es hin und beleuchteten jede Nacht das Haus.
»Wenn auch nur eine eurer Lampen in der Nacht erlischt, werde ich euch alle zusammen so hart bestrafen, wie ihr es euch nicht einmal in euren Alpträumen vorstellen könnt.«, sagte Argan jeden Abend, bevor er unter seine große Decke kroch. Dann schlief er ein und schnarchte die ganze Nacht so laut wie zehn Sägewerke zusammen.
Erst am nächsten Morgen befreite er die Menschen aus den Lampen und zwang sie zur Arbeit im Garten.

Eines schönen Tages kam ein kleines Wurmmädchen durch den Garten gekrochen. Ihr Name war Marla. Sie war angelockt worden vom Duft der süßen Früchte, an denen sie nun hungrig knabberte.
Doch als die Sonne langsam unter ging, suchte sie sich ein kleines Loch in der Hauswand, um dort schlafen zu können.
Doch von Ruhe und Schlaf konnte nicht die Rede sein. Denn noch bevor es richtig dunkel war, leuchtete bereits helles Licht im Innern des Hauses und überall beklagten sich kleine Menschen.
»Was mag denn da drin vor sich gehen?«, fragte sich Marla und kroch vorsichtig tiefer in das Loch, bis sie etwas sehen konnte.
Und da erblickte sie auch schon das graumsame Spiel. Ein gewaltiger Riese stopfte die Menschen mit ihren Lampen in Glühbirnen und hängte sie an der Decke auf.
»Wenn auch nur eine eurer Lampen in der Nacht erlischt, werde ich euch alle zusammen so hart bestrafen, wie ihr es euch nicht einmal in euren Alpträumen vorstellen könnt.«, sagte er wie jeden Abend.
»Hui, hat da vielleicht jemand Angst im Dunkeln?«, fragte sich das Wurmmädchen.
»Aber deswegen darf er doch die armen Menschen nicht einfach einsperren. Dagegen muss etwas unternommen werden.«
Marla kletterte wieder zurück nach draußen und pfiff einmal ganz laut auf ihren Fingern.
Kurz darauf bewegte sich etwas im Garten. Die Blätter des Salates wackelten und die Früchte der Bäume wippten hin und her, obwohl es völlig windstill war. Und dann konnte man sie sehen. Von überall kamen weitere Würmer hervor gekrochen und folgten Marla schließlich in das Haus des Riesen.

Die Menschen saßen still und traurig in ihren Glühbirnen. Sie achteten darauf, dass ihre Lampen nicht erloschen und waren so still wie es nur ging, damit der Riese nicht aufwachen konnte.
Doch dann war da ein Geräusch. ›Poch-poch, poch-poch‹. Irgend etwas klopfte von außen gegen das milchige Glas. Was konnte denn das nur sein? Dann war es wieder zu hören. ›Poch-poch, poch-poch‹.
Die Menschen wussten nicht, was sie davon halten sollten. Aber sie trauten sich auch nicht, darauf zu reagieren. Viel zu schnell hätte Argan wach werden können. Und ein wütender Riese war so ziemlich das schlimmste, was man sich vorstellen konnte.
Mit einem Mal entstand in allen Glühbirnen ein kleines Loch das schnell größer wurde. Die kleinen Würmer fraßen sich durch das Glas.
Eine leise Stimme sprach zu den Menschen und machte ihnen Mut.
»Kommt schnell heraus. Der Riese schläft. Wir sind hier, um euch zu befreien.«, flüsterte Marla.
Zuerst trauten sich die Menschen nicht.
»Er wird erwachen, sobald es dunkel wird. Und dann wird er uns bestrafen. Wir können hier nicht weg.«, antworteten sie.
Doch selbst dafür hatte Marla gesorgt, denn in diesem Moment war leises Summen zu hören und durch das Loch in der Wand kamen unzählige Glühwürmchen in das Haus geflogen.
»Sie werden eure Plätze einnehmen und für den Riesen leuchten. Denn für ein Glühwürmchen gibt es nichts schöneres als Licht zu machen.«
Nun fassten die Menschen Mut, kletterten aus ihren kleinen Gefängnissen und überließen ihre Plätze den Glühwürmchen. Noch in der selben Nacht verschwanden die Menschen für immer und suchten ein eigenes Land, in dem sie ohne Angst vor Riesen leben konnten.
Das Wurmmädchen Marla und ihre Freunde freuten sich sehr, jemand anderem etwas Gutes getan zu haben. Gemeinsam krochen sie in den Garten und fraßen sich am Obst und Gemüse des Riesen satt, bis nichts mehr davon übrig war. Danach verschwanden sie und wurden nie wieder dort gesehen.

Sofie bekam große Augen und ging näher an eine der Lampen im Keller heran.
»Und da drin sitzt also ein Glühwürmchen und macht Licht?
Papa machte ein ernstes Gesicht und nickte stumm.
Sofie musste grinsen.
»Weißt du was? Ich glaube dir kein einziges Wort. Aber lustig war die Geschichte trotzdem.«

(c) 2008, Marco Wittler

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