1023. Flaschenpostbote Knut gewinnt einen Freund

Flaschenpostbote Knut gewinnt einen Freund

Knut zog sich die blaue Jacke über, strich die Ärmel glatt und sah sich prüfend im Spiegel an. Etwas fehlte da noch. Ach, ja. Die passende Schirmmütze gehörte unbedingt auf den Kopf. Er legte den breiten Ledergürtel und seine große, schwere Tasche um. Zuletzt rückte er den Seestern auf der Brust zurecht und nickte endlich. Er war fertig und konnte in den Tag starten.

Der Meermann, verließ er sein Haus und schwamm los. Ihm folgte ein großer Krake, der die restlichen Taschen in seinen Armen hielt. Die Flaschenpost musste ausgeteilt werden. Sein Weg führte ihn wie immer zuerst zur nahen Grundschule, wo die Kinder am Zaun schon auf ihn warteten.
»Knut! Fiete! Enno!«, stürmten sie laut rufend auf die Drei zu. »Könnt ihr uns eines eurer verrückten Erlebnisse erzählen?«
Knut strich sich seinen Schnurrbart zurecht, dachte kurz nach und begann zu grinsen.
»Mir fällt da etwas ein. Wir sind letztens von einer riesigen Armee angegriffen worden. Davon werden wir euch berichten.«
Auf dem Schulhof wurde es mucksfischchenstill, als Knut zu erzählen begann.

Flaschenpostbote Knut war mit seinen Kollegen Fiete und Enno in der Stadt unter dem Meer unterwegs. Gemeinsam hatten sie bereits mehrere Stunden lang Postflaschen in Briefkästen gestellt. Es war Zeit für eine Pause, um Arme und Flossen zu entspannen. Sie kehrten in einer Limonadenspelunke ein, setzten sich an einen Tisch vor dem Gebäude und ließen ihre Blicke durch die Umgebung schweifen.
»War da hinten nicht gerade eine Bewegung?« Knut zeigte mit dem Finger in die Richtung eines großen Korallenwalds.
Krake Fiete kniff die Augen zu kleinen Schlitzen zusammen, versuchte in dem wild gewachsenen Wirrwarr etwas zu erkennen, schüttelte dann aber den Kopf.
Der kleine Seestern Enno machte sich gar nicht erst die Mühe, nach etwas zu suchen. Er rief einfach mit seiner äußerst tiefen Stimme. »Hallo!« Eine Antwort gab es allerdings nichts.
Die Flaschenpostboten widmeten sich wieder ihren Getränken und Gesprächen, als der Meermann erneut etwas im Augenwinkel sah. »Verdammt nochmal! Da ist etwas oder irgendwer. Ich bin mir da wirklich sicher.«
Er erhob sich von seinem Stuhl, schwamm zum Rand des Walds und suchte zwischen den vielen Verzweigungen. »Ist das wer? Komm raus. Ich weiß, dass du da bist und uns beobachtest.«
Nichts geschah.
»Na gut. Dann komme ich eben rein zu dir.«
Knut bahnte sich einen Weg ins Innere der Korallen, kam aber nur wenige Sekunden später schreiend wieder heraus. »Es ist ein Hai, großer Hai mit riesigen, scharfen Zähnen.«
»Warte, ich werde dir nichts tun.«, rief der Hai und kam bis an den Rand des Korallenwalds. »Ich bin ein friedlicher Hai. Ich bin nur einsam und habe keine Freunde.«
Knut bremste seine Flucht und hielt inne. Dann drehte er sich langsam wieder um und sah in die traurigen Augen des Hais.
»Mein Artgenossen haben mich verstoßen, weil ich keine Lust habe, anderen Meeresbewohnern aufzulauern und sie zu fressen. Das ist nicht das Leben, das ich mir vorgestellt habe. Ich finde aber auch keine neuen Freunde. Ich bin halt ein Hai. Die einen fürchten mich, die anderen meiden mich, weil ich anders bin.«
Knut sah sich den Hai von vorn bis hinten an. »Was ist denn an dir anders? Ich sehe zwei Augen, ich sehe Flossen.«
Der Hai seufzte. »Ich bin ein Fisch, der nicht mal eine einzige Schuppe am Körper trägt. Ich trage nur die nackte Haut am Leib.«
Der Flaschenpostbote grinste. »Nichts leichter als das. Ich werde dir dabei helfen.« Er zog sich eine Schuppe vom Unterleib ab und drückte sie dem Hai auf. »Das ist nur die Erste. Die nächsten werden kommen.«
Er schwamm zurück zur Spelunke, schwamm von Fisch zu Fisch und sammelte Schuppen ein. Fast jeder hier gab seinen Teil dazu, den Hai in der Gemeinschaft willkommen zu heißen. Als Knut seine lederne Umhängetasche gefüllt hatte, kehrte er zum Hai zurück und übergab ihm das sehr großzügiges Geschenk.
»Wir haben alle zusammengelegt, was wir geben konnten. Du bist uns herzlich willkommen.«
Dem Hai liefen dicke Tränen über die Wangen. Er schniefte laut und kleidete sich von der Nase bis zur Flosse in die gespendeten Schuppen.
»Jetzt bin ich endlich einer von euch. Jetzt bin ich ein richtiger Fisch.«
Er kam nun ganz aus dem Korallenwald hervor und schwamm zur Spelunke rüber, in der von allen Fischen freudig begrüßt wurde.
»Du bist auch so einer von uns. Jeder, der freundlich und nett ist, ist bei uns Willkommen, egal ob mit oder ohne Schuppen, denn darunter bist du einfach wer du bist. Das ist das Einzige, was zählt.«
Der Hai wusste nicht, wie ihm geschah. So sehr gefreut hatte er sich in seinem ganzen Leben noch nicht. Er zögerte ein paar Sekunden, dann schüttelte er alle Schuppen wieder ab und gab sie ihren Besitzern zurück.

Die Kinder der Grundschule sahen die Flaschenpostboten mit großen Augen an. Ein netter Hai mit Schuppen war unvorstellbar.
»Ihr könnt mir glauben, alles was wir erlebt haben, ist wahr.«
Knut, Fiete und Enno der Seestern winkten noch einmal zum Abschied, und machten sich wieder auf den Weg.

(c) 2021, Marco Wittler

Bild: Nik Karlov auf Pixabay

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