Ich lag auf der obersten Plattform des Kratzbaums und streckte alle Viere von mir. In tiefem Schlaf versunken, jagte ich hinter dem größten Verbrecher her, den die Welt je gesehen hatte und war kurz davor, ihn zur Strecke zu bringen.
Moment mal. Kratzbaum? Ja genau. Du hast richtig gelesen. Ich lag tatsächlich auf einem Kratzbaum. Völlig normal, wenn man ein Kater ist.
Ich stelle mich kurz mal vor, falls du mich noch nicht kennen solltest. Ich bin Manni, grau getigerter Kater. Die einen würden behaupten, ich sei dick. Aber dabei handelt es sich nur um ein Gerücht. Ich selbst bin der felsenfesten Meinung, eine stattliche Figur zu haben. Die braucht es auch, wenn man es mit den größten Verbrechern der Weltgeschichte zu tun hat.
Ich lag also auf dem Kratzbaum und schlief, als es draußen, auf der anderen Seite der Fenster laut wurde. Ich war, wie es sich für einen waschechten Ermittler gehört, sofort hellwach und riss die Augen auf. Ich ließ meinen Blick wandern, sah mich um und entdeckte eine große Menschenansammlung auf der Straße.
Sofort begann mein Verstand zu arbeiten. Was geschah dort draußen? Hatte sich etwas ereignet?
Ich stand auf, buckelte kurz meinen Rücken, streckte mich und kletterte zum Fensterbrett hinab. Die Menschen strömten in das Gemeindehaus, dass nur einen Steinwurf entfernt war. Über dem Eingang war ein großes Plakat aufgehängt, dass ich leider nicht lesen konnte. Schmerzlich wurde mir bewusst, dass ich auf meine alten Tage eine Brille brauchte.
Ohne mich umzudrehen winkte ich einen meiner Mitbewohner herbei. Es war ein gepunkteter Kater, der ein ganzes Stück kleiner als ich war und immer wieder dabei gesehen wurde, wie er vor allem Angst zu haben schien. Der Bengale kletterte zu mir hinauf, sah durch das Fenster und las mir das Plakat vor.
»Cocktail für eine Leiche«
Leiche? Ich wurde sofort hellhörig. War dort unten ein Mordfall geschehen? Wurden gerade die Zeugen vorgeladen und verhört? Und die wichtigste Frage: Warum hatte man mich nicht zu diesem Fall hinzu gezogen? Ich war noch immer der beste Ermittler weit und breit.
Ich musste dort runter. Ich sammelte meine Getreuen um mich. Der Bengale schüttelte den Kopf, was zu erwarten war. Mein Bruder Lord Schweinenase, an dessen Riechkolben immer Futterreste klebten war bereit. Die Mini-Mietze gesellte sich ebenfalls zu uns. Ich erwartete auch, dass der Mann, der Mensch, den ich in unserer WG duldete und der meine rechte Hand war, sich zu uns gesellte, aber er schien nicht hier zu sein. Es bleib also bei einem Ermittler-Trio.
Wir liefen aus dem Haus, überquerten die Straße und schlichen uns in das Gemeindehaus, in dem mittlerweile alle Menschen verschwunden waren.
Es ging durch die Flure und dunklen Gänge. Wir sahen in jeder Ecke nach, konnten aber keine Leiche entdecken. Auch war es alles andere als einfach, den Tatort zu finden. Es war, als hätte hier niemals ein Verbrechen stattgefunden.
Minutenlang waren wir auf der Suche, bis wir den hinteren Bereich des großen Saals erreichten. Dort befand sich, wie ich wusste, eine Bühne, auf der hin und wieder Veranstaltungen stattfanden.
Wir schlichen uns durch einen Seiteneingang und bekamen so einen guten Blick auf die Bretter, die die Welt bedeuteten. Es war eine Party im Gange. Es spielte Musik, die Gäste unterhielten sich und nahmen immer wieder Häppchen vom Buffet, dass auf einer großen Truhe stand. Auch sahen wir die restlichen Menschenmassen. Sie hatten im Saal Platz genommen und sahen der Feier zu.
Das wunderte mich doch sehr. Was war so interessant daran, anderen beim Feiern zuzuschauen? Doch auch wir setzten uns in den Schatten des geöffneten Vorhangs und warteten ab, bis wir erste Hinweise auf Leiche und Tatort bekommen sollten.
Mir fiel immer mehr auf, dass die beiden männlichen Gastgeber immer wieder um die große Truhe herum gingen, sie im Auge behielten und sich ständig verschwörerisch anblickten. Das war seltsam und auffällig. Befand sich dort etwa…?
Ich musste meinen Verdacht gar nicht aussprechen. Meine beiden Begleiter hatten den selben Gedanken gehabt. Wir sprachen uns kurz ab, zählten bis drei und stürmten dann gemeinsam die Bühne.
Lord Schweinenase sprang dem ersten Verdächtigen auf den Rücken, fuhr dort seine Krallen aus und brachte ihn so zu Fall. Die Mini-Mietze verfuhr auf ähnliche Weise mit den Beinen des Zweiten und fetzte ihm in die Haut, dass erste Blutstropfen spritzten. Ich blieb zunächst im Hintergrund, um alles zu koordinieren.
Durch das Publikum ging ein lautes Raunen. Manche Leute erschraken und sprangen von ihren Plätzen auf. Erst, nachdem sich die Lage auf der Bühne wieder beruhigte und die Verdächtigen bewegungslos auf dem Boden lagen, kam ich ruhigen Schrittes herbei und setzte mich neben die Truhe. Ich gab einem der Gäste zu verstehen, sie zu öffnen, was dieser auch tat. Im Innern kam tatsächlich die vermutete Leiche zum Vorschein. Allerdings … lebte sie und erfreute sich bester Gesundheit.
»Was soll der Mist?«, regte sich der Mann auf, der eigentlich froh sein sollte, wieder frei zu sein. »Was machen die Stubentiger hier? Warum stören die unser Theaterstück?«
Theaterstück? Das alles war nur Show?
Aus dem Publikum kam ein Mann nach oben. Es war unser Mann, mein Sidekick, mein Assistent. Er packte mich, Lord Schweinenase und die Mini-Mietze und verschwand mit uns aus dem Gemeindehaus. Immer wieder entschuldigte er sich dabei bei allen Anwesenden und warf mir zwischendurch bitterböse Blicke zu.
(c) 2021, Marco Wittler
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