Ein kleiner Geist in der Großstadt
Die Sonne war schon vor Stunden hinter dem Horizont verschwunden und hatte dem Mond und seinen Sternen Platz gemacht. Die Nacht war herein gebrochen. Als es dann zur Geisterstunde schlug, kam Leben in den alten, staubigen und verlassenen Dachboden der alten Burg auf dem Hügel über dem Dorf.
Der kleine Geist kam aus seinem Versteck, gähnte laut, streckte sich und sah sich um.
»Ach, ich habe keine Lust, heute Nacht durch die Gänge der Burg zu spuken. Es fürchtet sich hier schon niemand mehr vor mir. Dann macht es auch keinen Spaß. Ich möchte mal etwas Neues erleben.«
Der kleine Geist schwebte zum nahen Bücherregal, ließ seinen Blick hin und her wandern, bis er einen großen, schweren Atlas fand, der mit Landkarten gefüllt war.
»Ich möchte mal einen Ausflug machen. Ich möchte die Welt sehen.«
Spontan schlug er das dicke Buch auf, blätterte durch die Seiten und tippte wahllos auf eine Karte. »Frankfurt am Main. Das klingt interessant. Ich werde eine Großstadt besuchen.«
Der kleine Geist packte seine sieben Sachen, schnürte sie in einen Beutel und hängte ihn sich über die Schulter. Dann verließ er die alte Burg und flog in die Nach hinaus.
Es ging entlang großer, breiter Straßen, auf denen viele Autos unterwegs waren. Die nannten es wohl Autobahn. An diesen Wegen konnte man wunderbar den Weg finden, ohne sich zu verirren. Zusätzlich halfen auch die vielen Hinweisschilder. Trotzdem dauerte es ein paar Stunden, bis der kleine Geist am Ziel angekommen war.
Schon von Weitem war die Stadt zu sehen. Unzählige Lichter leuchteten in der Ferne und riesige Häuser ragten in den Himmel hinauf. Aus einem alten Zeitungsbericht, der irgendwo auf dem Dachboden lag, wusste der Geist, dass es sich um Wolkenkratzer handelte.
»Wow, sieht das hier umwerfend aus.«
Er flog durch die Häuserschluchten und konnte sich nicht satt sehen.
Doch plötzlich fing sein Blick etwas ein. In der Ferne war ein anderer Geist zu sehen.
»Hallo!«, rief der kleine Geist, bekam aber keine Antwort. »Hallo?« Nichts.
Er flog auf den anderen zu, der immer größer zu werden schien. Der andere befand sich hinter den Glasscheiben des größten Wolkenkratzers und verteilte sich über mehrere Etagen.
»Ich habe noch nie so einen großen Geist gesehen.«, war der kleine Geist begeistert. Ganz hin und weg flog er Runde um Runde um das Gebäude und versuchte irgendwie einen Kontakt herzustellen, wurde aber völlig ignoriert.
»Du magst mich wohl nicht. Dabei habe ich dir gar nichts getan.«
Wegen seiner fehlenden Erfahrung erkannte er nicht, dass er gar keinen Geist vor sich hatte, sondern nur Fenster, die in Form eines Geistes eingeschaltet worden waren.
Langsam ging die Nacht zu Ende. Der Mond war schon vor einiger Zeit verschwunden, während nun die Sonne wieder aus dem Bett gekrochen kam. Es wurde hell und das Licht im Wolkenkratzer abgeschaltet.
»Nanu? Wo bist du denn jetzt hin?«
Der kleine Geist flog noch ein paar Runden um das Gebäude herum und machte sich dann enttäuscht auf den Weg nach Hause.
(c) 2021, Marco Wittler
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