Das Tagebuch
Nele saß in der Schule und unterhielt sich mit ihren Freundinnen. Der Unterricht hatte noch nicht begonnen. Sie hatten also genug Zeit, sich gegenseitig die wichtigsten Neuigkeiten zu erzählen.
»Ich habe am Wochenende ein Tagebuch von meiner Tante geschenkt bekommen.«, berichtete Marie.
Alle anderen Mädchen saßen da, machten große Augen und staunten.
»Was ist denn ein Tagebuch?«, fragte Nele.
»Ist das so eine Art Kalender?«
Marie schüttelte den Kopf und lachte.
»Ihr habt ja gar keine Ahnung. In ein Tagebuch schreibt man jeden Tag etwas rein. Dinge, die man erlebt hat oder worüber man nachdenkt, eure größten Geheimnisse.«
Die Mädchen staunten jetzt noch mehr. Doch dann war es mit ihrer kleinen Runde vorbei. Der Lehrer kam herein und bat die Schüler, ihre Bücher auszupacken.
Das Tagebuch ging Nele nicht mehr aus dem Kopf. Irgendwie war das schon etwas ganz Besonderes. Man hatte alle Gedanken auf Papier und konnte nichts mehr vergessen.
Als sie mittags nach Hause kam, erzählte sie gleich ihrer Mutter davon und fragte, ob sie auch ein Tagebuch bekommen könnte.
»Aber sicher doch. Wenn du mir nach dem Essen beim Spülen hilfst, fahren wir zusammen in die Stadt und suchen ein hübsches Tagebuch und einen passenden Stift für dich aus.«
Nele freute sich und hüpfte in der Küche herum. So schnell wie an diesem Tag, hatte sie noch nie ihren Teller leer gegessen. Und noch bevor alle anderen fertig waren, stand sie bereits an der Spülmaschine und räumte alles Geschirr hinein, was sie finden konnten.
»Ich bin fertig Mama. Können wir jetzt fahren?«
Die Mutter musste lachen.
»Lass mich noch eben aufessen. Dann können wir los.«
In der Stadt suchten sie ein Schreibwarengeschäft auf. Es war ein recht kleiner Laden, hatte aber trotzdem eine sehr große Auswahl Tagebücher im Angebot.
Nele hatte es sehr schwer, sich eines auszusuchen. Immerhin würden darin die wichtigsten Dinge ihres Lebens stehen. Selbst die nette Verkäuferin konnte ihr nicht helfen. Es dauerte eine halbe Stunde, bis sie sich schließlich für ein kleines Buch in rosa Farbe und aufgeklebten Blümchen entschied.
Ihre Mutter hatte währenddessen einen schicken bunten Füllschreiber gefunden, mit dem man besonders schön schreiben konnte.
Während der Rückfahrt blätterte Nele schon durch die Seiten und hatte viele Ideen, die sie noch am gleichen Nachmittag aufschreiben wollte. Alles sollte mit kleinen Blümchen und Herzchen verziert werden.
»Das wird bestimmt das schönste Tagebuch, das es je gegeben hat. Die anderen werden staunen.«
Als Mama zu Hause den Motor abstellte, drehte sie sich nach hinten um und gab ihrer kleinen Tochter noch ein paar Tipps.
»Ein Tagebuch ist aber nur für dich bestimmt. Du schreibst alles und irgendwann liest du es auch mal wieder. Aber anderen zeigt man es eigentlich nicht so oft, denn da stehen deine geheimsten Geheimnisse drin. Am Besten versteckst du es an einem Platz, den niemand kennt und wo es niemand finden kann.«
Nele nickte und steckte das Buch verstohlen in ihre Tasche. Nachdem sie ausgestiegen war, flitzte sie sofort ins Haus, weiter in ihr Zimmer, legte sich auf ihr Bett und begann mit dem Schreiben. Zuerst wusste sie nicht, wie sie anfangen sollte, aber als sie den Stift auf das Papier setzte, ging es wie von allein.
›Hallo liebes Tagebuch. Ich bin Nele, acht Jahre alt und liege gerade auf meinem Bett, während ich das allererste Mal in dich hinein schreibe. Ich war nämlich gerade mit Mama in der Stadt, wo wir dich gekauft haben. Bis bald. Deine Nele.‹
Für den Anfang gefiel es ihr schon ganz gut. Nun malte sie noch ein Blümchen und ein Herzchen neben ihren Text, klappte das Tagebuch zu und sah sich nach einem Versteck um.
»Unter das Kopfkissen? Ach nein, da wird dich Mama sofort finden, wenn sie das Bett macht. Im Schrank? Auch nicht. Da wird es jeder als erstes vermuten.«
Es war gar nicht so einfach, etwas Passendes zu finden.
Doch dann fiel ihr etwas ein. Sie holte eine Rolle Klebestreifen, eine Schere und einen alten Schuhkarton hervor. Daraus bastelte sie ein kleines Schubfach, welches sie unter ihren Schreibtisch klebte. Dort konnte sie ihr Tagebuch nun immer hinein schieben. Dort würde es nicht einmal ihr großer Bruder finden.
Und schon war die nächste Idee da. Nele holte das Tagebuch erneut hervor und schrieb noch ein paar Zeilen hinein.
›Liebes Tagebuch. Da bin ich schon wieder. Pass immer gut auf dich auf und lass dich nicht von meinem großen Bruder erwischen. Der ist nämlich sehr neugierig und würde nur zu gern in dir lesen. Sollte er mal in mein Zimmer kommen, dann versteck dich gut. Bis bald. Deine Nele.‹
Am nächsten Morgen packte Nele ganz schnell ihre Sachen in ihre Schultasche, bevor sie zum Bus gehen musste. Am Abend zuvor hatte sie nichts mehr vorbereitet, weil sie bis zur Schlafenszeit in ihrem Tagebuch gemalt hatte.
In der Schule wurde es sehr hektisch. Die Kinder saßen mal hier und mal dort in einem Unterrichtsraum, verbrachten noch eine Stunde in der Sporthalle und schrieben eine Arbeit im Rechnen. Erst zu Hause kam Nele etwas zur Ruhe.
Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und wollte ihrem Tagebuch von ihrem bisherigen Tag berichten. Doch das Tagebuch war nicht mehr da.
»Das ist ja komisch. Es hat doch gestern Abend noch auf dem Schreibtisch gelegen. Wo ist es denn geblieben?«
Sie durchsuchte eine Stunde lang ihr ganzes Zimmer. Sie warf sogar einen Blick in das Zimmer ihres Bruders, ob er vielleicht schon in ihren geheimsten Geheimnissen blättern würde. Aber auch dort wurde sie nicht fündig.
Da fiel Nele ein, dass sie am Morgen alle Bücher, die auf dem Schreibtisch lagen, für die Schule eingepackt hatte. Sofort durchsuchte sie ihre Tasche. Aber wieder Fehlanzeige.
»Ach du Schreck. Ich hab es doch wohl nicht in der Schule verloren? Wenn das jetzt jemand findet und darin liest. Das wäre die größte Katastrophe, die ich mir vorstellen kann.«
Sofort lief sie zu ihrer Mutter und erzählte ihr von ihrem Pech. Gemeinsam riefen sie in der Schule an. Der Hausmeister war noch dort und erklärte sich bereit, einem kleinen verzweifelten zu helfen, seine geheimsten Geheimnisse zu finden.
Kurz darauf gingen sie zu dritt in der Schule von Klassenraum zu Klassenraum. Nele sah sich überall dort um, wo sie gesessen hatte. Aber zum Schluss musste sie mit ihrer Mutter, aber ohne Tagebuch, nach Hause fahren.
»Das ist das Schlimmste, das mir jemals passiert ist. Wenn jetzt jemand liest, was in meinem Tagebuch steht und es noch überall herum erzählt, dann kann ich mich nie wieder vor die Tür wagen.«
Sie schlurfte unter Tränen in ihr Zimmer und lies sich auf ihr Bett fallen. Während sie sich auf ihrer Decke hin und her rollte, fiel ihr Blick auf den Schreibtisch. Dort sah sie unter der Holzplatte ein kleines Schubfach aus Pappe mit einem rosa Büchlein kleben.
»Oh nein, was bin ich doch dumm. Da hab ich mir extra ein sicheres Versteck ausgedacht und finde es dann selber nicht mehr wieder.«
Nele lachte, holte das Tagebuch hervor und schrieb wieder etwas hinein.
›Liebes Tagebuch. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was mir heute passiert ist. Ich dachte den ganzen Nachmittag, dass ich dich verloren hätte. Überall habe ich nach dir gesucht, konnte dich aber nicht finden. Dabei warst du die ganze Zeit in deinem sicheren Versteck. Aber etwas Gutes ist schon daran. Jetzt denkt jeder, dass ich dich in der Schule verloren hätte. Also wird hier niemand mehr nach dir suchen. Ein so gut verstecktes Tagebuch hat bestimmt niemand anderes in meiner Klasse. Bis bald. Deine Nele.‹
Sie schloss das Tagebuch und versteckte es wieder unter dem Schreibtisch.
(c) 2008, Marco Wittler
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