1209. Die trojanische Ente

Die trojanische Ente

Es geschah am frühen Morgen. Schon während sich die ersten hellen Strahlen den Weg über den Horizont erkämpfen und ihre Sonne hinter sich her zogen, wurde schnell klar, dass in der Nacht etwas passiert war. Die Frühaufsteher entdeckten sie als Erste. Mitten auf der Wiese, neben dem noch leeren Parkplatz, stand eine vier Meter hohe, bunte Ente, die am Abend zuvor noch nicht hier gestanden hatte.
Neugierig kamen die Nachbarn aus ihren Häusern, um sich dieses riesige Ding aus der Nähe anzuschauen. Manche von ihnen hatten einen Becher Kaffee in der Hand, andere waren im Bademantel nach draußen gekommen. Während die meisten einen gewissen Abstand hielten, trauten sich ein paar wenige näher heran und betasteten die Oberfläche. Dieses riesige Bauwerk bestand offensichtlich komplett aus Holz. Mehr war daran aber auch nicht zu entdecken, denn es gab an keiner Seite einen Eingang oder ein Guckloch.
Etwa eine halbe Stunde später kam der Chef des Freibads zur Arbeit. Es wurde Zeit, die Eingangstür aufzusperren, um die ersten Badegäste begrüßen zu können. Auch er wunderte sich über die große Ente. Wie mochte sie nur hierher gekommen sein? Auch er nahm das Ungetüm genau unter die Lupe, bis er zu grinsen begann. »Ich glaube, ich habe da eine geniale Idee. Eine Ente gehört zum Wasser. Wir sollten sie ins Freibad bringen und neben dem großen Becken aufstellen, dann haben wir eine Attraktion mehr, die unsere Besucher anlocken wird.«
Gesagt, getan. Schon eine Stunde später rollte ein mobiler Kran heran und stellte die Ente an ihrem neuen Platz ab.
In der Zwischenzeit hatte der Chef des Freibads nicht geschlafen. Auf allen bekannten Internetkanälen hatte er kräftig Werbung gemacht und Fotos verbreitet. Die Schlange am Eingang war entsprechend lang. Jeder wollte die Ente sehen.

Während das Schwimmbecken fast leer war, drängten sich die Schaulustigen auf der Wiese. Jeder wollte das perfekte Foto schießen. Außerdem gab viele Vermutungen, woher die Ente wohl stammen möge. Ein paar Leute hielten es nicht für ausgeschlossen, dass sich dahinter ein bekannter Straßenkünstler verbergen musste, der überall auf der Welt seine Kunstwerke hinterließ, dessen Identität aber schon seit Jahren im Dunkeln lag.
Plötzlich tat sich etwas. Im Holz der Ente begann es zu knacken und zu knarzen. An der dem Wasser zugewandten Seite öffnete sich ein Tor, das krachend zu Boden fiel. Erschrocken wichen die Schaulustigen zurück. Dann wurde es still. Selbst die Grillen in den umliegenden Hecken schienen den Atem anzuhalten.
Und dann stürmten sie ins Freie. Wie eine gelbe Flut sprangen unzählige Entenküken auf das Schwimmbecken zu und sprangen laut jubelnd ins Wasser.
»Endlich haben wir es geschafft. Das Freibad gehört uns. Jetzt kann uns niemand mehr aufhalten.«
Der Freibadchef riss sich die Mütze vom Kopf, ohne die ihn noch niemand gesehen hatte und schleuderte sie wütend auf den Boden.
»So ein verdammter Mist. Seit Jahren halte ich die Enten erfolgreich davon ab, ins Freibad einzudringen und jetzt haben sie mich doch noch aufs Kreuz gelegt.«

(c) 2022, Marco Wittler

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