Samstags im Museum
Anne hatte heute ein ganz besonderes Programm, denn sie befand sich in einem riesig großen Museum. Gemeinsam ging sie mit ihrem Opa von Raum zu Raum. Mal standen sie vor einer großen Figur, mal vor einer Plastik oder einer Skulptur. In einer anderen Etage gab es besondere Installationen mit verschiedenen Lichtern und Farben, während in einem weiteren Raum Kunst mit Videos gezeigt wurden. Es gab so unendlich viel zu entdecken.
Immer wieder sprach Anne mit Opa über die einzelnen Kunstwerke. Sie tauschen sich darüber aus, was sie sich dazu dachten und fühlten.
Irgendwann kamen sie in eine Etage, in der viele Gemälde an den Wänden hingen. Manche zeigten Dinge aus der Vergangenheit oder aus dem Alltag, andere bestanden nur aus Farben und Formen, bei denen man sich selbst überlegen konnte, was sich darin verbarg.
Gerade standen sie vor einem Bild, das bestimmt drei Meter breit und halb so hoch war. Es war einfach nur in verschiedenen orangen Tönen bemalt. An den Ecken und den Rändern kamen Teile der Leinwand und grobe Stofffetzen zum Vorschein.
»Na, was denkst du?«, fragte Opa. »Was siehst du darin? Was könnte sich der Künstler bei seinem Werk gedacht haben?«
Anne ging ein paar Schritte zurück, legte den Kopf mal auf die eine, mal auf die andere Schulter. Sie streckte die Arme aus und formte mit den Fingern einen Rahmen, durch den sie das Bild betrachtete.
»Es ist ein schöner, warmer Sommertag am Meer. Die Sonne steht hoch am Himmel. Ein paar Kinder bauen eine Sandburg am Strand. Im Meer baden ganz viele Leute. Alle haben ganz viel Spaß, können mal abschalten und und den Alltag hinter sich lassen.«
Opa lächelte und nickte. »Ich glaube, du das das Bild sehr gut erfasst.«
In diesem Moment drängelte sich eine Frau an den beiden vorbei. Schon an ihrer Körperhaltung und dem schüttelnden Kopf war zu erkennen, dass sie mit Annes Interpretation nicht einverstanden war.
»Das stimmt ganz und gar nicht, was du da von dir gegeben hast, kleines Mädchen.«
Anne blieb ganz ruhig, obwohl es ganz und gar nicht nett war, von einer Fremden als kleines Mädchen bezeichnet zu werden. Sie antwortete nicht darauf und wartete nun auf den Rest, der da kommen würde.
»Weißt du eigentlich nicht, was für ein bedeutendes Kunstwerk du vor dir siehst? Das ist ein Bild des Künstlers Wilhelm Petermann. Diesen Namen hast du wohl noch nie zuvor gehört. Ich möchte mal sagen, dass ich seine allergrößte Bewunderin bin und es sehr viel besser weiß, was er uns mit seinem Bild sagen will. Ich verfolge seine Arbeiten schon seit Jahrzehnten und sehe sie mir regelmäßig bei Ausstellungen und in Museen an. Ich kenne jedes einzelne Werk. Nur den Künstler habe ich noch nie persönlich kennenlernen dürfen. Aber das ist nur eine Frage der Zeit.«
Ihr Blick wechselte von Anne zu Opa. »Sind sie nicht auch der Meinung, dass das kleine Mädchen falsch liegt? Was sehen sie denn in dem Bild? Bevor ich ihnen sage, was es tatsächlich darstellt, würde ich gern ihre Meinung erfahren.«
Opa sah zu Anne, grinste und wandte sich der vorlauten Dame zu. »Nun, ich werde ihnen sagen, was ich da vor mir sehe. Es ist ein schöner, warmer Sommertag am Meer. Die Sonne steht hoch am Himmel. Ein paar Kinder bauen eine Sandburg am Strand. Im Meer baden ganz viele Leute. Alle haben ganz viel Spaß, können mal abschalten und und den Alltag hinter sich lassen.«
Das Gesicht der Frau lief rot an. Sie fühlte sich auf den Arm genommen. »Wie können sie es wagen? Haben sie überhaupt eine Ahnung davon, wer Wilhelm Petermann überhaupt ist?«
Opa seufzte, nickte und griff in die Brusttasche seines Hemds und holte seine Visitenkarte hervor. »Gestatten? Wilhelm Petermann, Künstler.«
Die Dame vor ihm wurde noch roter im Gesicht, dieses Mal aber nicht vor Wut, sondern aus Scham. Sie nahm die Visitenkarte und machte sich schnell aus dem Staub.
»Haben wir das nicht gut gemacht?«, fragte Opa.
»Das haben wir sehr gut gemacht.«, antwortete Anne mit einem Lachen in der Stimme. »Nächstes Wochenende wieder?«
Opa nickte. »Nächstes Wochenende wieder, so wie wir das immer machen.«
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