1211. Die Zeit steht still

Die Zeit steht still

Der Minutenzeiger der alten Schrankuhr sprang eine Position weiter und zog den Stundenzeiger gleich hinter sich her. Nun zeigte beide senkrecht nach oben. Der Gong im Innern schlug zwölf Mal und kündigte die beginnende Geisterstunde an. Nur wenige Augenblicke später kam Leben in den Dachboden auf der alten,verfallenen Burg. Ein kleiner Geist kam aus seinem sicheren Versteck, in dem er den Tag über schlief, um nicht von neugierigen Menschen entdeckt zu werden. Müde rieb er sich die Augen, gähnte laut und streckte sein weißes Laken in alle Richtungen aus, bevor er sich überlegte, was er in dieser Nacht unternehmen wollte.
»Ich glaube, ich möchte mal wieder hinunter zum Dorf und heimliche Blicke durch die Fenster der Menschen werfen. Da gibt es immer so viele interessante Dinge zu entdecken.«
Der kleine Geist schwebte durch die alten, zugigen Gemäuer der Burg und spürte dabei den leichten Luftzug, der sein Laken umspielte.
Draußen war es dunkel. Im Dorf, das im Tal unterhalb des Burghügels lag, brannten nur noch wenige Lichter. In den meisten Häusern lagen die Menschen bereits in ihren Betten und schliefen tief und fest. Der kleine Geist wollte sich gerade auf den Weg machen, als ihm etwas auffiel.
»Was ist denn hier passiert?«
Bei einem Blick über seine Schulter war ihm aufgefallen, dass sich an der Uhr, die in der Außenwand eingelassen war, etwas verändert hatte. »Waren da nicht letzte Nacht noch die Zeiger dran? Jetzt sind sie verschwunden. Wie soll ich denn jetzt sehen wie spät es ist. Oder ist die Zeit einfach nur stehengeblieben? Nein, das kann doch gar nicht sein.«
Der kleine Geist schwebte zum Boden hinab und machte sich auf die Suche. Die Zeiger konnte er aber nirgendwo finden. Selbst in den dichten Büschen am Wassergraben war nichts zu entdecken.
»Hier gehen ganz seltsame Dinge vor sich. Ich muss schnell einen Farbeimer besorgen und Zeiger auf das Ziffernblatt malen, damit es den Menschen nicht auffällt. Sie könnten sonst auf die Idee kommen, sich hier umzuschauen und würden mein Versteck entdecken.«
Der kleine Geist flog wieder hinauf zum Dachboden und wollte gerade wieder durch das Gemäuer schweben, als in den Fenstern bunte Lichter aufflammten und laute Musik ertönte. Der kleine Geist erschrak und wich ein paar Meter zurück, bis er sich sicher sein konnte, dass keine Gefahr für ihn bestand. Dann näherte er sich langsam wieder und warf einen vorsichtigen Blick durch eines der Fenster.
Im großen Saal hatte sich mindestens ein Dutzend Geister eingefunden, die eine große Party feierten. An einer der Wände hatten sie sogar die verloren geglaubten Zeiger der großen Uhr angebracht und sie mit einer Lichterkette verziert.
Der kleine Geist wäre vor Wut beinahe aus seinem Laken gefahren. Er schwebte in den Saal, drehte sie Musik ab und flog zum Kronleuchter hinauf.
»Seid ihr eigentlich verrückt geworden? Wisst ihr eigentlich, was passiert, wenn ihr einfach eine wilde Party feiert?« Sie sahen ihn alle still an. Ein paar von ihnen senkten schuldbewusst ihre Blicke. »Die Lautstärke und das Licht werden die Neugier in den Menschen wecken. Sie werden zur Burg herauf kommen und nach dem Rechten schauen wollen. Es wird dann nur eine Frage der Zeit sein, bis sie uns und unsere Verstecke finden. Dann müssen wir uns eine neue Bleibe suchen. Also lasst den Quatsch.«
Der kleine Geist schwebte zur Wand, montierte die großen Zeiger ab und machte sich auf den Weg nach draußen, um sie an ihren Platz zurück zu bringen.
Packt den Partykram zusammen und bringt ihn nach unten in die dunklen Verliese. Und wenn ich fertig bin, komme ich nach und dann feiern wir, wie sich das für Geister gehört.« Er begann zu grinsen. Dort unten würde sie niemand hören oder sehen können.

(c) 2022, Marco Wittler

Die Geschichte ist inspiriert von diesem tollen, animierten Bild von Rike.
Schau mal in ihr Profil bei Twitter. Dort gibt es noch sehr viel mehr vo ihrer Kunst zu entdecken.

https://twitter.com/fuchsfamos/status/1488394935116210177?s=20&t=SK3wvfgsXnOgFjdfzFLkgw

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