1327. Flaschenpostbote Knut und der Seebär

Flaschenpostbote Knut und der Seebär

Flaschenpostbote Knut hatte an diesem Tag einen weiteren Weg vor sich als üblich. Einmal im Monat brachte er Briefe und Sendungen in eine der entfernten Nachbarstädte. Zu Anfang seiner Dienstzeit war er diese Strecken über mehrere Tage hinweg geschwommen. Mittlerweile hatte er aber eine einfachere, schnellere Methode gefunden. Er schwamm hoch, bis kurz vor die Wasseroberfläche und nutzte die natürlichen Strömungen des Meeres. So auch heute. In Windeseile ließ er sich treiben und sah den Meeresschildkröten zu, die ihn dabei noch überholten.
Plötzlich fiel ein großer Schatten auf den alten Meermann. Zuerst dachte er sich nichts dabei. Es kam häufiger vor, dass auch riesige Wale und Walhaie die schnellen Strömungen nutzten, um Energie zu sparen. Doch ein kurzer Blick nach oben verriet, dass der Schatten von einem künstlichen Objekt stammte. Über Knut kreuzte ein großes Segelschiff hinweg, das normalerweise von den Landmenschen genutzt wurde, um das Meer zu überqueren. Normalerweise hielt sich der Flaschenpostbote von diesen schwimmenden Holzkästen fern. Zu oft kam es zu unschönen Begegnungen. Doch heute hatte er noch etwas Zeit übrig und wurde von seiner Neugier an die Oberfläche gezogen. Sein Kopf tauchte aus den Fluten auf. Knut sah sich um. Sofort fiel ihm auf, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte. Normalerweise tummelten sich an Bord dutzende Seeleute. Doch von ihnen fehlte jede Spur. Selbst das Steuerrad auf der Brücke bewegte sich unkontrolliert hin und her.
»Was geht denn da vor sich?« Knut schwamm näher. Die Menschen konnten unmöglich alle von Bord gefallen sein. Hatte es ein Unglück gegeben oder hatte sich das Schiff bei einem Unwetter im Hafen losgerissen und trieb nun allein über die sieben Weltmeere?
Knut griff nach einem Seil, das lose nach unten baumelte und zog sich daran hoch.vVorsichtig spähte er über die Reling und entdeckte einen mächtigen Eisbären, der sich die Sonne auf den Bauch scheinen ließ.
»Was ist denn hierlos?«, fragte der alte Meermann und gewann so die Aufmerksamkeit des Bären. »Was hier los ist?« Er lachte laut auf. »Ich habe die Mannschaft von Bord gejagt und habe das Kommando übernommen. Meine Eisscholle wurde immer kleiner. Ich hatte mit meinem Hintern kaum noch Platz darauf. Der Klimawandel und die steigenden Temperaturen, machen uns Eisbären das Leben schwer. Und weil die Menschen daran Schuld haben, habe ich ihnen ihr Schiff anbegommen. Jetzt reise ich eben auf Holz und nicht mehr auf Eis.«
Nun lachte auch Knut. Das geschah den Menschen ganz recht.

(c) 2022, Marco Wittler

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