134. Die Vogelfänger oder „Papa, warum färben sich die Blätter bunt?“ (Papa erklärt die Welt 22)

Die Vogelfänger
oder ›Papa, warum färben sich die Blätter bunt?‹

Sofie lief durch den Wald, versteckte sich mal hinter einem Baum, mal hinter einem Busch und kicherte die ganze Zeit vor sich hin.
»Du fängst mich ja doch nicht.«, rief sie.
Papa kam mit einem großen Korb hinter ihr her.
»Mit den vielen Pilzen kann ich ja auch nicht so schnell rennen.«
Sofie verdrehte die Augen.
»Ach, Papa. Dann stell den Korb doch mal ab. Ich will doch noch ein wenig mit dir spielen. Bitte, bitte.«
Papa seufzte, stellte den Korb ab und lief los. Seine Tochter begann zu jubeln und flitzte so schnell sie konnte den Waldweg entlang. Doch kurz bevor Papa sie erreichte, blieb sie plötzlich stehen.
»Das ist ja seltsam.«, sagte sie verwundert.
Papa blieb ebenfalls stehen und sah sich um.
»Was meinst du denn? Ich kann nichts Ungewöhnliches entdecken.«
Sofie zeigte auf einen großen Laubbaum, der zwischen den vielen Tannen und Fichten stand.
»Schau doch mal. Der Baum ist ganz bunt. So etwas habe ich noch nie gesehen. Das sieht richtig lustig aus.«
Papa warf einen Blick auf den Baum.
»Das ist etwas ganz normales. Im Herbst werden die Blätter der Bäume immer bunt. Kurz darauf fallen sie dann ab und der Baum bleibt kahl, bis der nächste Frühling kommt. Nur die Tannen behalten ihre Nadeln.«
Sofie dachte nach.
»Papa, warum färben sich die Blätter bunt?«
Papa hielt inne, kratzte sich am Kinn und dachte nach.
»Das ist eine wirklich gute Frage. Dazu fällt mir eine Geschichte ein, die ich erst kürzlich gehört habe. Sie handelt zufällig von Bäumen und Blättern. Und die werde ich dir jetzt erzählen.«
Sofie strahlte über das ganze Gesicht.
»Oh ja, eine Geschichte.«
»Und wie fängt eine Geschichte immer an?«, fragte Papa.
Sofie lachte schon voller Vorfreude und antwortete: »Ich weiß es. Sie beginnt mit den Worten ›Es war einmal‹.«
»Ja, das stimmt. Absolut richtig. Also, es war einmal …«

Es war einmal ein großer Wald. In ihm lebte eine große Vielzahl Vögel. Im Frühling begannen sie laut und vergnügt vor sich hin zu zwitschern, Eier zu legen und ihre Jungen auszubrüten. Sie flogen von Baum zu Baum, bauten Nester, fingen Würmer und kleine Insekten und versorgten damit ihren Nachwuchs.
Den ganzen Sommer über war ein einziges Vogelkonzert zu hören. Die anderen Tiere saßen in ihren Höhlen, Verstecken oder liefen umher und hörten nur zu gern dem Gesang zu. Erst in den Abendstunden, wenn die Sonne langsam hinter dem Horizont verschwand, verstummten die unzähligen Stimmen und überließen den weiteren Gesang einer kleinen Grillengruppe.
Aber wie immer neigen sich die Jahre irgendwann ihrem Ende entgegen. Die Tage werden kürzer und die Temperaturen fallen.
Der Herbst brach an und die Vögel bereiteten ihren langen Flug in den warmen Süden vor.
Eines Tages war es dann so weit. Die Vogelschwärme erhoben sich in die Lüfte. Doch ein paar Momente traf sie der Schrecken wie ein Schlag.
Am Waldrand hatte eine Gruppe Menschen hinter einigen Büschen gewartet. Nun sprangen sie hervor und begannen, die Vögel mit großen Netzen zu fangen und in kleine Käfige zu sperren. Bis zum Abend waren auf diese Weise mehrere hundert Tiere in Gefangenschaft geraten.

Ein paar Tage später stand ein dicker Händler auf dem Marktpatz der Stadt. Auf seiner Ladentheke standen unzählige Käfige, in denen unglückliche Vögel saßen. Es war nicht einmal mehr ein Piepen von ihnen zu hören.
»Los, singt schon, oder ihr landet heute Abend in der Bratpfanne.«, befahl er. Aber es hatte keinen Zweck. Die Tiere blieben still.
In diesem Moment lief eine Schulklasse über den Markt. Sie waren auf dem Weg in den Wald, um Eicheln, Bucheckern und Kastanien zu sammeln.
»Hört zu, Kinder.«, sagte die Lehrerin.
»Alles, was wir heute sammeln, bewahren wir gut auf, damit wir damit die Tiere des Waldes im Winter füttern können.«
Der Blick eines Jungen fiel auf die Käfige.
»Schaut mal, der Mann dort verkauft Vögel. Da muss ich heute Mittag gleich meine Eltern fragen, ob ich einen haben darf. Dann muss ich nicht mehr in den Wald gehen um ein Zwitschern zu hören.«
Sofort waren alle Mädchen empört und beschwerten sich.
»Du kannst doch nicht einfach so einen armen Vogel gefangen halten.«, sagte die Erste.
»Vögel können im Käfig doch gar nicht mehr fliegen.«, fügte die Nächste hinzu.
Die Lehrerin hörte sich die folgende Situation genau an und überlegte, wie sie den Kindern dazu etwas beibringen konnte. Sie ging zum Händler und ließ sich erzählen, woher er seine Vögel bekam.

Am nächsten Morgen, als der Unttericht begann, kam die Lehrerin mit einem Käfig in den Klassenraum. Zuerst waren die Kinder erschrocken, doch dann stellten sie fest, dass kein Vogel darin saß.
Die Kinder redeten nun kreuz und quer. Jeder wollte seine Meinung vorbringen und wollte von den anderen gehört werden. Am Ende einigten sie sich darauf, dass es nicht richtig wäre, wilde Vögel im Herbst zu fangen, um sie in Käfigen zu halten.
»Aber was unternehmen wir denn jetzt? Die Tierfänger werden Morgen auf den nächsten Vogelschwarm warten und wieder ihre Käfige füllen. Das können wir doch nicht zulassen.«, beschwerte sich eines der Mädchen.
»Wartet ab.«, sagte die Lehrerin.
»Ich habe da schon eine prima Idee.«
Sie öffnete einen Wandschrank und holte mehrere Farbeimer und Pinsel hervor.

Eine Stunde später stand eine Horde Kinder mitten im Wald. Mit großem Eifer bemalten sie die Blätter der Bäume. Das Grün verschwand allmählich, bis der gesamte Wald rot und braun geworden war.
»Seht ihr, Kinder?«, erklärte die Lehrerin.
»Jetzt haben die Blätter die gleiche Farbe, wie die Vögel. Nun wird es den Tierfängern sehr schwer fallen, überhaupt noch ein Tier in der Luft zu erkennen. Und wenn alle Vögel auf dem Weg in den Süden sind, können die Blätter ruhig zu Boden fallen.«
Die Kinder waren glücklich. Nun musste kein weiterer Wildvogel Angst haben, sein Leben in einem kleinen Käfig zu verbringen.
»Das machen wir jetzt jeden Herbst.«, sagte einer Jungs.
Alle anderen Kinder jubelten und stimmten ihm zu.
Seit dieser Zeit wurde nie wieder ein Vogelfänger im Wald gesehen.

»Und deswegen werden jedes Jahr die Blätter bunt?«, fragte Sofie.
Papa nickte.
»So ist es. Jedes Jahr gehen Schulklassen in die Wälder und malen alle Blätter an.«
Sofie lachte.
»Das war eine tolle Geschichte, Papa. Trotzdem glaube ich dir davon kein einziges Wort.«
Sie nahm ihren Vater an die Hand. Gemeinsam setzten sie ihren Weg fort und sammelten noch ein paar leckere Pilze.

(c) 2008, Marco Wittler

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