Im dunklen Land
Tilda saß auf dem Ast eines Baumes, den der leichte Wind sanft hin und her schaukelte. Mit unsicherem Blick sah sie auf das Land vor ihr, das sich mehr als deutlich von ihrem eigenen abhob.
»Ich mag gar nicht daran denken, was mich hinter der Grenze erwartet. Bestimmt leben dort schaurige Gestalten und Monster, die mir ans Leder wollen.« Tilda fröstelte. Es lief ihr eiskalt den Rücken hinunter. Würde man ihr die kleinen, zarten Elfenflügel vom Rücken reißen, um an ihren Flugstaub zu gelangen?
Sie schüttelte den Kopf und versuchte, die düsteren Gedanken abzuschütteln, denn das Land vor ihr war schon dunkel genug.
Sie schulterte ihre schwere Tasche und flog weiter. Wenige Zentimeter vor dem dunklen Land bremste die kleine Elfe noch einmal ab. Sie schloss die Augen und streckte langsam eine Hand aus. Die Dunkelheit fühlte sich nicht anders an, als die helle Seite der Welt. »Scheint alles in Ordnung zu sein.« Trotzdem setzte sie ihren Weg mit größter Vorsicht fort.
Schon mit Überschreiten der Grenze spürte Tilda plötzlich, dass sich etwas auf ihren Geist und ihre Seele legte. Da war etwas, dass sich wie eine viel zu schwere Bettdecke anfühlte, unter der man nicht mehr ohne fremde Hilfe hervor kommen konnte. Ihre gute Laune verschwand und machte traurigen Gedanken Platz. Unter größter Anstrengung flog Tilda weiter.
Mit jedem Meter, mit jedem Flügelschlag fiel ihr der Weg schwerer. Sie wollte umkehren, in die Heimat zurückkehren, bevor sie sich der Schwere des dunklen Landes hilflos ergab. Auch konnte sie kaum noch die richtige Richtung erkennen. Nur wenig Licht erreichte noch ihr Auge.
Die kleine Elfe klatschte im Flug gegen etwas Großes. Dass sie sich dabei nicht verletzt hatte, lag nur daran, dass dieses Etwas weich gepolstert war. Tilda hing in langen, strähnigen Haarbuscheln fest, aus denen sie sich nur mühsam heraus kämpfen konnte. »Du meine Güte. Was ist das hier?« Tildas Verwunderung fand sich in diesen wenigen Worten wieder, die aber nicht nur aus ihrem Mund gekommen waren. Eine große, starke und warme Stimme hatte sie ebenfalls ausgesprochen. Zwei riesige Finger tauchten aus der Dunkelheit auf, griffen vorsichtig nach der Elfe und hoben sie aus den Haaren heraus. Kurz darauf blickte sie in zwei Augen, von denen jedes größer war als sie selbst.
»Wer bist du?« Tilda zitterte am ganzen Körper. »Was bist du?«
»Ich bin Monster.« Das große, haarige Wesen blickte die Elfe an, als wäre es selbstverständlich, wer oder was es war.
»Und wie heißt du?« Tilda war sich nicht sicher, ob das Monster seinen Namen genannt hatte oder sie ihn schlicht überhört hatte.
Das Monster sah aus, als fühlte es sich veralbert. »Ich bin Monster. Das ist, was ich bin und wer ich bin. Nenn mich Monster. Aber viel wichtiger ist, wen ich in meinem Rückenfell gefunden habe.«
Tilda wurde rot im Gesicht. Ihr wurde bewusst, dass sie sich gar nicht vorgestellt hatte. »Ich bin eine Elfe und heiße Tilda.«
Monster bekam große Augen. »Du hast tatsächlich einen eigenen Namen? Nur die größten und wichtigsten Wesen im dunklen Land bekommen einen Namen. Du musst ja etwas ganz Besonderes sein.«
Tilda lächelte verschämt. Sollte sie Monster aufklären oder sollte sie es in seinem Glauben belassen? »In Land der strahlenden Sonne bekommt jeder einen eigenen Namen, denn jedes Lebewesen ist etwas Besonderes.«
Monster seufzte. »Ich bin nichts Besonderes. Ich bin nur Monster. Ich sitze Tag für Tag in meinem Boot und warte auf jemanden, der zum anderen Ufer hinüber gefahren werden möchte. Bis heute ist aber niemand aufgetaucht. Doch jetzt bist du da. Möchtest du hinüber?«
Tilda hätte fast den Kopf geschüttelt. Mit ihren Flügeln hätte sie schon irgendwie zur anderen Seite fliegen können, sie wollte Monster aber nicht enttäuschen. »Ja, sehr gern. Das wäre eine große Hilfe für mich. In dieser Dunkelheit finde ich sonst niemals den Weg. Und ich muss mich beeilen, denn ich habe etwas ganz Wichtiges auszuliefern.«
Monster grinste vor Freude von einem Ohr zum anderen. Es griff zu den Rudern, ließ sie ins Wasser eintauchen und fuhr los.
»Du bist meine allererste Kundin. Sei mir deswegen bitte nicht böse, wenn die Fahrt etwas holprig wird. Mir fehlt die nötige Übung. Was genau sollst du denn ausliefern? Darf ich das wissen oder ist es ein streng gehütetes Geheimnis? Ich möchte dich ungern in Schwierigkeiten bringen.«
Tilda lachte. »Nein, es ist kein Geheimnis. Ich bewahre einen Sonnenstrahl in meiner Tasche auf. Ich soll ihn zu einem Leuchtturm bringen, damit das dunkle Land ein wenig heller und freundlicher wird.«
Monster riss die Augen auf. »Ich habe von diesem Turm gehört. Er soll vor vielen Leben einmal geleuchtet haben, aber das ist Teil von vielen Legenden und Mythen. Ich weiß, wo er sich befindet. Ich bringe dich zu ihm.«
Monster änderte ein wenig den Kurs und ruderte noch ein wenig schneller. Unterwegs wurden sie immer wieder aus der Dunkelheit heraus von riesigen Fischen, und mit langen Zähnen bewaffneten Untieren angegriffen, die Monster tapfer in ihre Schranken wies. Nach einer langen, aufregenden Fahrt stieß das Boot gegen das andere Ufer und blieb abrupt stehen. »Wir sind angekommen. Vor uns erhebt sich der Leuchtturm über das dunkle Wasser.«
»Vielen Dank.« Tilda legte ihre Hand auf die des Monsters. »Ohne deine Hilfe hätte ich diesen Ort niemals erreicht. Jetzt lass uns dieses Land zu einem besseren Ort machen.« Sie prüfte den richtigen Sitz ihrer Tasche und flog in die Höhe. Wenige Minuten später flammte der Sonnenstrahl auf und schickte sein warmes Licht in alle Richtungen. Die Dunkelheit verschwand. Das Land wurde hell.
Freudestrahlend kam Tilda zum Boot zurück und setzte sich. »Monster, wir haben es geschafft. Das Licht ist an seinem Platz angekommen. Ist das nicht toll?«
Monster nickte, hielt sich aber noch eine Weile die Hände vor die Augen. So viel Licht hatte es in seinem ganzen Leben noch nicht gesehen. »Und was machen wir jetzt?«
Tilda überlegte nicht lange. »Jetzt werde ich dir einen Namen geben, denn du bist auch jemand ganz Besonderes. Ich nenne dich Aurora, wie das aufgehende Sonnenlicht, weil du mir geholfen hast, dass die Dunkelheit verschwindet.«
Trotz des dicken Fells konnte man sehr gut sehen, wie Aurora rot im Gesicht wurde. »Ich habe einen eigenen Namen.« Aurora jubelte so laut, dass mehrere Wellen über das Wasser hinweg jagten. Sie griff nach Tilda und drückte sie fest an sich.
(c) 2022, Marco Wittler
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