144. Die tapfere Schneiderin

Die tapfere Schneiderin

Kathy saß in ihrem großen und gemütlichen Sessel im Wohnzimmer. Hinter ihr knisterte das Feuer im Kamin, vor ihr flimmerte der Fernseher vor sich hin und auf einem kleinen Schränkchen dudelte das Radio.
Auf Kathys Schoß lag ein Büdel bunter Stoffe, die sie nach und nach mit Nadel und Faden zu einem hübschen Kostüm verarbeitete.
»Nächste Woche ist Halloween. Da muss ich doch schön gruselig aussehen.«, sagte sie sich immer wieder, wenn sie keine Lust mehr hatte. Danach sauste die Nadel wieder durch die Stoffe.
Gerade begann im Fernsehen eine Reportage, auf die Kathy schon den ganzen Tag gewartet hatte. Ganz gebannt wechselte nun ihr Blick vom Stoffbündel auf die Mattscheibe und zurück. Es war ein einziges hin und her. Doch dann klingelte es plötzlich an der Tür.
Kathy erschreckte sich, stach mit der Nadel an einem Knopf vorbei und piekte sich in den Zeigefinger.
»Autsch! Das tut aber weh.«
Und schon lief Blut aus der Wunde.
»Da muss schnell ein Pflaster drauf.«
Aber als sie im Flur angekommen war, fiel ihr wieder ein, dass es geklingelt hatte. Sie steckte den Finger in den Mund, damit das Blut nicht den ganzen Fußboden voll tropfen konnte und öffnete die Tür. Draußen stand einer ihrer besten Freunde.
»Hallo Bär, was machst du denn hier? Mit deinem Besuch habe ich heute gar nicht gerechnet.«
Der Bär sah traurig aus.
»Ich habe gerade ein Bild aufhängen wollen. Doch als ich den Nagel in die Wand schlagen wollte, prallte der Hammer gegen mein Auge. Das wird jetzt bestimmt dick und blau.«
Kathy dachte kurz nach und lief dann in die Küche. Sie öffnete den Kühlschrank, holte ein großes rohes Steak hervor und schnappte sich ein Trockentuch, mit dem sie das Stück Fleisch auf das verwundete Auge band.
»Meine Oma hat gesagt, dass das helfen soll.«
Als sie den Magen des Bären grummeln hörte fiel ihr noch etwas anderes ein.
»Es hilft aber nur, wenn man das Fleisch lange genug auf dem Auge ruhen lässt. Also komm gar nicht erst auf die Idee es zu fressen.«
Der Bär nickte, bedankte sich für die Hilfe und ging wieder nach Hause.
Kathy trottete ins Wohnzimmer und ließ sich wieder in ihren Sessel fallen. Als sie das Stoffbündel sah, fiel ihr wieder der blutende Finger ein, den sie während des Sprechens ständig aus dem Mund heraus geholt und anschließend wieder hinein gesteckt hatte.
»Ach du Schreck. Ich bin doch auch noch verletzt. Das habe ich doch glatt vergessen.«
Sie stand wieder auf und ging zum Bad, doch da klingelte es ein weiteres Mal an der Tür.
»Dieses Mal nicht. Jetzt bin ich erst dran.«
Doch es klingelte noch ein Mal. Kathy gab auf und öffnete die Tür. Im Hausflur stand Miez, die kleine flippige Katze.
»Hallo Kathy.«, sagte sie mit großen traurigen Augen.
»Ich war gerade unten im Garten und habe auf dem Klettergerüst herum geturnt. Dann bin ich plötzlich abgerutscht und auf dem Boden gelandet. Und nun tut mir das Bein vorne links so weh. Kannst du mir vielleicht helfen? Ich muss doch nachher zur Oma laufen. Sie hat etwas leckeres zum Abendbrot gemacht.«
Kathy bat die Katze herein und besah sich das schmerzende Bein sehr genau.
»Gebrochen ist es nicht. Du kannst ja schließlich noch laufen. Aber es wird verstaucht sein.«
Kathy lief ins Bad und holte einen Verband. Diesen wickelte sie um das Bein.
»Der wird dich ein wenig stützen. Zumindest kannst du damit etwas schmerzfreier laufen.«
Miez war überglücklich, drückte Kathy an sich und verschwand wieder im Hausflur.
»Ich hoffe, dass ich mich jetzt endlich selber verarzten darf.«
Doch da begann das Telefon im Flur auf und ab zu hüpfen. Jemand rief an.
Kathy verdrehte die Augen und nahm den Hörer ab.
»Hallo, hier ist Kathy, die Ärztin. Wer spricht und was kann ich für sie tun?«
Eine kurze Pause entstand. Dann erst sprach die Anruferin.
»Seit wann bist du denn Ärztin?«, fragte Nellie Grünschnabel.
»Ich dachte, du bist Schneiderin.«
Nellie zuckte mit den Schultern, was Kathy allerdings nicht sehen konnte.
»Ich rufe an, weil ich unbedingt deine Hilfe brauche.«
Kathy wollte Nellie bitten, etwas später anzurufen, kam aber nicht zu Wort.
»Das kann auch nicht aufgeschoben werden. Es ist ganz dringend.«
Ohne Luft zu holen, sprach sie in einem fort.
»Ich stehe gerade in der neuen Boutique in der Stadt. Und du kannst dir gar nicht vorstellen, was ich hier tolles gefunden habe. Sie verkaufen die neue Handtasche von Ormeni und ich kann mich einfach nicht entscheiden, ob sie mir in rot, weiß oder rosa besser gefällt. Ich bin völlig verzweifelt.«
Kathy konnte es nicht fassen. Konnte Einkaufen wirklich so wichtig sein?
»Kauf die rote Tasche.«, sagte sie verzweifelt und wollte schon auflegen, doch da folgte bereits die nächste Frage.
»Und welche Schuhe passen dazu? Ich habe welche bei Reichmann und bei Beno gesehen. Bitte hilf mir doch.«
Kathy empfahl ihr ein ganz anderes Schuhgeschäft und beendete das Telefonat so freundlich wie es eben ging.
»Mein armer Finger. Ich hoffe, dass ich nicht schon längst verblutet bin.«
Und ein weiteres Mal wurde sie auf dem Weg zum Arzneischränkchen gestört, denn es klingelte ein drittes Mal an der Tür. Der Bär war noch einmal gekommen. Das Steak auf seinem Auge war jetzt nur noch halb so groß.
»Sag bloß, du willst noch ein Steak haben.«
Der Bär schüttelte den Kopf.
»Mir war gar nicht richtig aufgefallen, dass du auch verletzt bist. Ich war viel zu sehr mit meinem Auge beschäftigt. Erst unten auf der Treppe fiel es mir wieder ein. Also bin ich ganz schnell wieder nach oben gelaufen. Unterwegs war ich dann aber so schlapp, dass ich etwas zur Stärkung essen musste. Deswegen ist das Steak fast nicht mehr da.«
Dann holte er ein großes Pflaster hervor und grinste verlegen.
»Das ist für dich.«
Er zog Kathys Finger aus ihrem Mund und klebte das Pflaster auf die Wunde.
»Na los, du dicker Bär, komm schon rein. Du bekommst ein neues Steak von mir. Und diesmal wird es richtig lecker gebraten.«
Kathy freute sich so sehr, dass sich nun endlich jemand um sie gekümmert hatte, dass sie für sich und den Bären ein leckeres Abendessen kochte.

(c) 2008, Marco Wittler

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