1534. Ein verdammt lange Nacht

Eine verdammt lange Nacht

Es kam langsam zu sich. Das Einhorn öffnete langsam die Augen, kniff sie aber sofort wieder zu, denn die helle Sonne tat einfach nur weh.
»Kann mal jemand die große Lampe da oben abschalten? Und wer hat dem Tag eigentlich erlaubt, jetzt schon wieder zu beginnen? Ich bin dafür, dass die Nacht noch ein paar Überstunden macht.«
Das Einhorn wagte einen zweiten Versuch. Mist. Die Sonne war immer noch da und wollte ihren Platz nicht für eine Rückkehr des Mondes räumen.
»Ein Königreich für eine Sonnenbrille.« Es legte sich einen seiner Vorderhufe gegen die Stirn. »Und eine Kopfschmerztablette gegen das Unwetter unter meinem Schädel.«
Nun öffnete das Einhorn doch noch die Augen, wenn auch nur zu schmalen Schlitzen. »Was für eine verrückte Nacht. Ich glaube, ich habe es dieses Mal echt übertrieben. Ich sollte endlich aufstehen und mir einen Kaffee machen, damit ich wieder klar denken kann.«
Es wolle sich erheben, doch ein starkes Schwindelgefühl hielt es am Boden. »Puh! Wie krass ist das denn? So schlimm ging es mir noch nie nach einer Party. Was haben denn die Trolle bei ihrer Party in die Speisen und Getränke gemischt?«
Es blickte sich um und erschrak. Es lag nicht, wie erwartet, in seinem Bett oder unter dem Tisch der Gastgeber. Nein, es lag irgendwo in der Stadt, in einer ihm fremden Straße vor einer Tür, die es nicht kannte. Die Tür selbst und das sie umgebende Mauerwerk war mit unzähligen Regenbögen übersät. »Ups.« Das Einhorn lief im Gesicht rot an. »Da habe ich mich wohl mehr als einmal übergeben. Das ist mir jetzt aber richtig peinlich. Zum Glück duftet das bei mir nach frisch gepflückten Gänseblümchen. Nicht auszudenken, was die Leute von mir denken würden, wenn ich Mensch wäre. Das wäre ein Gestank.« Es lachte heiser und hustete. Der trockene Hals brauchte dringend etwas zu trinken.
Das Einhorn stützte sich an der nun bunten Wand ab, kam langsam auf die Beine und blickte sich stöhnend um. Erst jetzt bemerkte es mehrere zerstörte Spielzeuge um seinen ungewöhnlichen Schlafplatz herum. »Verdammt! Was ist denn hier passiert? Was hab ich denn angestellt? So einen heftigen Hangover, so einen krassen Blackout hatte ich ja noch nie.«
Wieder rieb es sich mit einem Huf über die schmerzende Stirn. »Wenn wenigstens jemand hier wäre, der dabei war.«
In diesem Moment hörte es ein leises Surren. Zuerst dachte das Einhorn, dass dies seiner Fantasie entstammen musste, die noch unter den Spätfolgen der Party litt. Aber nein. Das Geräusch kam von einem Flugzeugmodell, dem eine Tragfläche fehlte. Eine Einstiegsluke öffnete sich langsam. Dann kam der Kopf eines kleinen Piloten heraus, der sehr wütend dreinblickte. »Sowas passiert eben, wenn man die ganze Nacht Zuckerwatte in sich hineinstopft. Du hattest einen heftigen Zuckerschock und hast hier auf der Straße mit meinem Flugzeug immer wieder Abstürzen gespielt. Die kannst dir nicht vorstellen, wie es meinen Fluggästen geht. Denen ist richtig schlecht geworden.« Er zeigte auf den fehlenden Flügel. »Und nun kommen wir hier nicht mehr weg, weil du alles kaputt gemacht hast.«
Das Einhorn wurde wieder rot im Gesicht. »Das tut mir wirklich leid. Das war keine Absicht, das musst du mir glauben. Ich vertrage leider nicht so viel Zuckerwatte. Davon wird mir immer komisch und am nächsten Tag habe ich heftige Kopfschmerzen. Wird bestimmt nicht wieder vorkommen.«
Es legte kurz die Stirn in Falten, dachte nach und begann zu grinsen. Es tastete mit dem Huf von der Wange bis auf den Kopf hinauf zum Horn. »Krass!« Es grinste. »Ich hab ja noch für eine stille Reserve gesorgt.«
Es griff zur Zuckerwatte, stopfte sie sich ins Maul und kaute genüsslich.
Der kleine Flugkapitän verdrehte die Augen und zog sich in seine Flugmaschine zurück. »Mist, jetzt geht es wieder von vorn los. Alles anschnallen. Wir erwarten schwerste Turbulenzen.«

(c) 2023, Marco Wittler

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